Niemand, Den Du Kennst
überzeugt, dass wir genau so waren, wie Thorpe uns beschrieben hatte.
Im Folgenden porträtierte Thorpe Lila als beinahe schon schmerzhaft schüchtern, mich als hemmungslos kontaktfreudig. Doch jedem, der uns wirklich kannte, wäre klar gewesen, dass Thorpe unsere Unterschiedlichkeit zu dramaturgischen Zwecken maßlos überzeichnete. Alles, was die Schilderung aus seiner Sicht stören könnte, wurde weggelassen: Nie sagte er, dass ich bis zu Lilas Tod in den Kursen, die ich mochte, immer ziemlich fleißig gewesen war. Nie erwähnte er, dass Lila zwar grundsätzlich eher eine Einzelgängerin
gewesen war, auf Fremde aber auch durchaus freundlich zugehen konnte.
Ich verstand, warum. »Alles dreht sich um die Figuren«, hatte er in meinem ersten Kurs bei ihm in einer von mehreren Vorlesungen zur Erzählkunst gesagt. Obwohl der Kurs offiziell »Zeitgenössische Amerikanische Literatur« hieß, erlaubte Thorpe sich Freiheiten im Lehrplan und verlangte häufig von uns, selbst Kurzgeschichten zu schreiben. »Handlung, Schauplatz, Stil - nichts davon hat irgendeine Bedeutung, wenn man keine interessanten Figuren hat, die sich vorzugsweise miteinander im Konflikt befinden.« Von seinem Standpunkt aus konnte ich nachvollziehen, warum der Kontrast zwischen der schüchternen, intellektuellen Schwester und der extrovertierten, künstlerisch veranlagten dem Buch mehr Unterhaltungswert verleihen würde. Und darauf, so glaubte ich, war er aus. In Thorpes Verständnis ging es nicht um Genauigkeit, sondern um die Gesamtwirkung.
Von der ersten Seite an strahlte Mord in der Bucht eine Atmosphäre aus, die zu flüstern schien: »Komm her, ich erzähl dir mal eine richtig unheimliche Geschichte.« Im Laufe der Jahre hatte ich selbst viele solche Bücher mit Genuss gelesen. Obwohl ich Tschechow und Flaubert mochte, O. Henry und Cesare Pavese, konnte ich mich jederzeit in einen gut geschriebenen Krimi oder eine fesselnde True-Crime-Story versenken. Kaltblütig war eines meiner Lieblingsbücher. Dass Truman Capote es darin mit der Wahrheit nicht immer so genau nahm, hatte mich nie besonders gestört. Jahre, nachdem ich das Buch erstmals in der Schule las, hatte ich immer noch deutlich das Bild der allseits beliebten sechzehnjährigen Nancy Clutter vor Augen - »ganz Holcombs Liebling« -, die in einem Zimmer im oberen Stock um ihr Leben bettelt. Ich sah immer noch das Bauernhaus vor mir, das Capote
beschreibt, in dem jedes Mitglied der Familie Clutter getrennt von den anderen den Augenblick seines Todes erlebte. Doch die unvorstellbare Verderbtheit dieses Verbrechens hielt mich nicht davon ab, ein voyeuristisches Entzücken beim Umblättern der Seiten in Capotes Buch zu spüren.
Zwei Figuren werden in Kaltblütig nur beiläufig erwähnt, sodass man sie rasch wieder völlig aus dem Gedächtnis verliert.
Die älteste Tochter, Eveanna, war verheiratet und Mutter eines zehn Monate alten Jungen, sie lebte in Nord-Illinois, kam aber oft zu Besuch nach Holcomb … Auch Beverly, die zweitälteste Tochter, lebte nicht mehr auf der River-Valley-Farm. Sie war in Kansas City, wo sie zur Krankenschwester ausgebildet wurde.
In der Zeit nach den Morden müssen Eveanna und Beverly den Schicksalsschlag tiefer empfunden haben als jeder andere. Ich fragte mich, ob sie das Buch jemals gelesen hatten, und wenn ja, was sie davon hielten. Machte sich Capote, während er das Buch schrieb, das ihn berühmt machen sollte, wohl jemals Gedanken darüber, wie schmerzvoll es für die überlebenden Schwestern werden würde?
Irgendwann in jener Nacht, als ich allein in meinem Zimmer saß und las, hörte ich meine Mutter den Flur entlangschlurfen. Sie klopfte leise an meine Tür, und ich stopfte das Buch unter die Decke. »Herein.«
Sie kam ins Zimmer und setzte sich auf meine Bettkante. »Dein Licht war an«, sagte sie lächelnd. Mir war aufgefallen, dass sie in letzter Zeit immer lächelte, beziehungsweise zu lächeln versuchte, doch es wirkte nie ganz natürlich. Ich hielt
ihre Hand. Sie war weich und feucht vom Eincremen. Meine Mutter war eine Frau, die an dezenten Luxus glaubte. Solange ich denken konnte, hatte sie dieselbe teure Lotion für ihre Hände verwendet, die sie auch für ihr Gesicht benutzte, mit dem Argument, dass man einer Frau an den Händen ansehen konnte, wie gut sie sich pflegte. Es funktionierte; trotz ihrer endlosen Gartenarbeit waren ihre Hände wunderschön.
»Du musst das nicht machen, Mom«, sagte ich.
»Was
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