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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Zimmer gewesen war. Beim Eintreten fiel es zunächst nicht unmittelbar auf, es war nur so ein Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sofort ging ich zum Safe unten im Kleiderschrank und fand ihn verschlossen vor. Ich tippte meinen Code ein und öffnete die Tür. Pass und Bargeld waren unangetastet. Doch als ich mir am Waschbecken das Gesicht waschen wollte, sah ich, dass es nass und das kleine Seifenstück ausgepackt worden war. Aus Gewohnheit wische ich das Becken immer aus, wenn ich es benutzt habe, und ich habe auf Reisen stets meine eigene Seife dabei. Ich sagte mir, ich musste wohl aus irgendeinem Grund an diesem Morgen von meinem üblichen Ritual abgewichen sein, wenn ich mich auch nicht daran erinnern konnte.
    Ich stellte den Deckenventilator an, zog Rock und T-Shirt aus und legte mich auf das saubere weiße Laken. Die Brise war angenehm auf der Haut, und das Gefühl, halb bekleidet auf dem harten Bett in dem schlichten Raum zu liegen, mit dem klappernden Ventilator über mir, rief mir einen ähnlichen Spätnachmittag vor drei Jahren in Guatemala ins Gedächtnis. An diesem Tag war ich nicht allein gewesen, sondern Henry war bei mir. Wir hatten in einem kleinen Restaurant an einem der Hügel gegessen und uns bei der Rückkehr in unser Zimmer halb ausgezogen zusammen aufs Bett gelegt, um uns zu lieben. Aus irgendeinem Grund hatten wir, noch bevor
wir die Absicht in die Tat umsetzen konnten, zu streiten angefangen.
    Als ich nun allein auf dem Bett in Diriomo lag, konnte ich mich nicht mehr erinnern, worüber Henry und ich damals gestritten hatten oder was der Auslöser gewesen war. Ich wusste nur noch, dass er nach einigen Minuten versuchte, einen Scherz zu machen, und ich ihn beschuldigte, nichts ernst zu nehmen. Binnen kurzem hatten wir uns so in unsere Auseinandersetzung hineingesteigert, dass wir beide schrien und uns solche Dinge an den Kopf warfen, von denen man Stunden später nicht mehr fassen kann, dass man sie tatsächlich zu einem geliebten Menschen gesagt hat. Schließlich bat ich ihn, sich umzudrehen, damit ich mich anziehen konnte. Wir waren unzählige Male zusammen nackt gewesen, und die Bitte kam ihm melodramatisch vor. Letztendlich gab er ihr aber nach, und ich zog mich an und ging hinaus. Ich machte einen Spaziergang durch einen nahe gelegenen Park und trank im selben Restaurant Kaffee, in dem wir vor gar nicht langer Zeit zusammen gegessen hatten. Mittlerweile hatte ich den Streit im Geiste noch einmal durchgespielt und erkannt, wie lächerlich es war, dass sich eine unwichtige Meinungsverschiedenheit zu einer solch leidenschaftlichen Konfrontation ausgewachsen hatte.
    Auf dem Weg zurück zum Hotel blieb ich an einem Straßenstand stehen. Ich wollte mich bei Henry entschuldigen und ein Geschenk für ihn kaufen, ein handgearbeitetes silbernes Feuerzeug, das er am Tag davor bewundert hatte. Henry war der einzige Raucher, mit dem ich je eine Beziehung einging - »nur Zigarren«, argumentierte er, »und nur am Wochenende« -, und ich wusste, dass ein Feuerzeug als Geschenk besonders bedeutungsvoll für ihn wäre, da es ein Zugeständnis von meiner Seite war, ein Beweis echter Zuneigung,
indem es ihn aufforderte, nichts an sich zu verändern. Ich bezahlte das Mädchen noch extra dafür, das Feuerzeug in bedrucktes gelbes Papier zu verpacken und eine kunstvoll verschnürte Schleife darum zu wickeln, was sie langsam und mit demonstrativer Sorgfalt tat.
    Ich hatte das Hotel in solcher Hast verlassen, dass ich meinen Schlüssel vergessen hatte. Also musste ich bei meiner Rückkehr klopfen. Ich wartete auf den Klang von Henrys Schritten zur Tür, doch es folgte nur Stille. Wieder klopfte ich, rief seinen Namen und stand dort gute fünf Minuten lang, mit wachsender Beklommenheit klopfend und rufend, bis ich schließlich nach unten zur Rezeption ging und mir einen Ersatzschlüssel holte. Als ich die Tür öffnete, sah ich, dass das Bett gemacht war. Henry war nicht da. Sein Koffer und der Pass waren verschwunden. Ich verschob meine Termine und verbrachte die nächsten beiden Tage im Hotel, wartete auf ihn, verließ das Gebäude nur zum Kaffeetrinken und Essen.
    Am dritten Tag hatte der Portier eine Nachricht für mich, als ich nach der Arbeit zum Hotel zurückkehrte. Henry hatte aus San Francisco angerufen. Wir könnten reden, meinte er, wenn ich heimkäme. In den kommenden Tagen versuchte ich mehrmals, ihn zu erreichen, aber vergeblich. Ich musste verschiedene Plantagen besuchen, und weitere drei Tage

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