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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Reisen schon um die ganze Welt begleitet: nach Äthiopien, Uganda, Brasilien, Kolumbien, Costa Rica, Jamaika, Java, Neuguinea und in den Jemen. Für mich war es eine Art Tagebuch, doch statt von Menschen und Erlebnissen zu berichten, war es voll von detaillierten Notizen über Aroma und Körper, Säure und Harmonie. Die mit dem Verkosten einhergehenden Begriffe waren so unterschiedlich wie die Kaffeesorten selbst, und ich empfand sie in ihrer schlichten, präzisen Poesie als tröstlich: Ein als süß beschriebener Geschmack konnte weiter aufgebrochen werden in pikant, spritzig, mild oder zart, wohingegen ein säuerlich schmeckender Kaffee scharf, hart, herb oder würzig war. Aromen waren trocken, zuckrig oder enzymatisch, wobei Letzteres wiederum als blumig, fruchtig oder erdig näher charakterisiert werden konnte. Ein blumiges Aroma war entweder floral oder duftig, ein fruchtiges besaß entweder einen Hauch von Zitrus oder von Beeren, und ein erdiges erinnerte entweder an Zwiebelgewächse oder an Hülsenfrüchte. Die meisten Leute, die ihren Java am Morgen schlürfen, würden die Zwiebel-, Knoblauch-, Gurken- oder Erbsennote in den erdigen Kaffees nicht herausschmecken, oder die Zedern- und Pfeffernuancen in einem würzigen Kaffee der rassigen Sorten; aber für mich bestand der Hauptgenuss beim Trinken einer Tasse Kaffee darin, diese feinen Unterschiede wahrzunehmen.
    Zusätzlich zu meinen Verkostungsnotizen waren die Ränder
des Buches eng bekritzelt mit Beschreibungen von Verkostungsräumen, Vermerken zu örtlichen Bräuchen, Namen und Geburtsdaten der Kinder von Kaffeebauern, Anekdoten über die mit ihnen verbrachte Zeit. Sollte ich von einem Bus überfahren werden, wären meine Notizen meine bedeutendste Hinterlassenschaft, das Dokument, anhand dessen ein Fremder meine persönliche Geschichte rekonstruieren könnte.
    Als der Motor nach drei Vierteln des Weges die steile Bergstraße hinauf abstarb, dankte ich dem Fahrer, bezahlte ihn und ging zu Fuß weiter. Laufen beruhigte mich immer, das Gefühl von Erde unter meinen Füßen und die rhythmische Bewegung von Armen und Beinen. Was das Wandern betraf, hielt ich es mit Henry David Thoreau: »Man muss laufen wie ein Kamel, das angeblich das einzige Tier ist, welches beim Gehen wiederkäut.«
    Hinter mir konnte ich den Fahrer an seinem Auto hantieren hören - ein metallisches Klappern, als zerlegte er das Fahrzeug in sämtliche Einzelteile, abwechselnd unterbrochen von Flüchen und leidenschaftlichen Stoßgebeten an die Jungfrau Maria. Schon bald war ich außer Hörweite seiner Stimme und konnte Tiere über den Waldboden rascheln, Grasmücken in den Ästen, das Rat-a-tat-tat von Spechten hören. In dieser Höhe war die Luft dünn; meine Atemzüge waren flach, und meine Lungen fühlten sich wie zusammengeschnürt an. Immerhin war ich im Schatten, vor der Sonne durch ein Dach aus Baumkronen geschützt, und befand mich inzwischen auf der Plantage, weniger als einen halben Kilometer von Jesus’ Haus entfernt. Das üppige Aroma der Kaffeekirschen mischte sich mit dem herben, süßlichen Geruch von Zitronenbäumen und dem milden Duft von Kochbananen. Ich hörte einen vertrauten, krächzenden Klang, eine Reihe von hellen, miteinander
verbundenen Pfeiftönen, und folgte dem Geräusch mit den Augen in die Äste über mir, wo ich den leuchtend gelben Bauch eines Baltimoretrupials entdeckte.
    Ein kleines Mädchen tauchte auf der Lichtung auf. »Ellie!«, rief sie und rannte mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Es war Rosa, knapp sechs Jahre alt. Ich kannte sie, seit sie ein Baby war, und staunte bei jedem Besuch, wie sehr sie sich verändert hatte; ihre Haare wurden kürzer und kürzer, ihre Gesichtszüge von Jahr zu Jahr ausgeprägter. Ich stellte mir vor, dass sie mit sechzehn nur noch aus eleganten Konturen bestünde, die Haare zu einem stylischen Bob mit Filmstarpony frisiert. Ich ließ meine Tasche fallen und hob sie hoch.
    »Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte ich.
    Sie strahlte. »Was denn?«, fragte sie, nach der Tasche schielend. »Ein Geschenk? Darf ich es aufmachen?«
    »Jetzt hör sich das einer an! Wann hast du denn so gut Englisch gelernt?«
    »Am Wochenende kommt immer eine Frau, die uns Unterricht gibt«, erzählte sie. »Angel lernt auch.«
    Ich griff in meine Tasche und zog ein in knallrotes Papier gewickeltes Geschenk heraus. Es war ein ledergebundenes Tagebuch mit einem roten Bleistift, beides mit Rosas Namen in Gold eingraviert. Sie zupfte ungeduldig

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