Niemand, Den Du Kennst
geführt hatten. In jenem Moment dort im Garten war mir bewusst, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, aber ich hätte mir niemals vorstellen können, dass sie tatsächlich fort war. Am nächsten Tag sollten wir den Anruf aus Guerneville bekommen.
Für mich war das Grausamste an der Orpheus-Geschichte
nicht die Tatsache, dass er Eurydike zweimal verlor, sondern dass er sie, als sie ihm das zweite Mal entglitt, nicht berühren konnte. Als Kinder hatten Lila und ich ständig Körperkontakt - wir flochten einander die Haare, rangen auf dem Fußboden miteinander, tanzten zu den alten Platten meiner Mutter. Doch je älter wir wurden, desto weniger fassten wir uns an. Als Lila schließlich auf der Uni war, kam unsere Haut nur noch in Berührung, wenn wir einander im Vorbeigehen zufällig streiften - oder wenn ich ihre unsichtbare Grenze überschritt und eine Hand auf ihren Arm legte, um sie aus einer tiefen Konzentration zurückzuholen. Im Gegensatz zu mir legte Lila keinen Wert auf körperliche Zuneigung, und bei den seltenen Gelegenheiten - ein Geburtstag, eine Verabschiedung, wenn ich sie anlässlich einer ihrer Reisen zu Mathematikkonferenzen zum Flughafen brachte -, bei denen ich versuchte, sie zu umarmen, konnte ich ihr Widerstreben spüren, sobald meine Arme sich um ihren Nacken legten.
An dem Abend, als ich allein im Garten lag und nach der Lyra suchte, fiel mir auf, dass ich meine Schwester sehr lange nicht mehr umarmt hatte. Und ich beschloss, sie, sobald ich sie wiedersah, an mich zu drücken und lange festzuhalten, ob es ihr nun gefiel oder nicht. Nicht eine Sekunde lang kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht nie mehr nach Hause käme.
13
»JEDE GESCHICHTE BEDINGT EINEN VERTRAG mit dem Leser«, pflegte Thorpe zu sagen. »Der Vertrag wird auf der ersten Seite angelegt, möglicherweise schon mit der ersten Zeile: der Schauplatz, die Hauptfiguren, der Sprachrhythmus und, am allerwichtigsten, die Perspektive - wer erzählt die Geschichte und aus welcher Distanz. Wenn an irgendeinem Punkt die Perspektive ins Wanken gerät, dann wird der Vertrag mit dem Leser gebrochen. Das Fundament zerbricht, und der Leser wird daran erinnert, dass alles nur erfunden ist.«
Ich hatte die ganzen Jahre eine bestimmte Geschichte über mein eigenes Leben geglaubt, eine Geschichte, die zufälligerweise aus Thorpes Perspektive erzählt wurde. Der Mensch, der ich als Erwachsene war, wurde stark von dieser Geschichte beeinflusst. Wenn Lila von dem Mann getötet werden konnte, für den sie am meisten empfand, wie konnte man dann überhaupt noch irgendjemandem vertrauen? Seit dem Mord an Lila hatte ich mir den Luxus absoluten Vertrauens nur ein einziges Mal geleistet - bei Henry; nur ihn hatte ich wirklich an mich herangelassen. Als diese Beziehung zerbrach, stürzte ich mich in die Arbeit. Ich redete mir ein, dass der Weg zum Glück darin läge, mich in dem hervorzutun, was ich am besten beherrschte. Wenn ich mich einsam fühlte, konnte ich zu einer Kaffeeplantage reisen oder mich in
meine Verkostungsnotizen vertiefen. Das war die Gestalt, die mein Leben angenommen hatte, und ich hatte meinen Frieden damit gemacht. Es war zwar nicht das Leben, das ich mir einmal für mich selbst ausgemalt hatte, und es war auch nicht das Leben, das meine Eltern sich für mich wünschten - sie wollten einen Schwiegersohn, Enkelkinder. Aber irgendwie war es trotzdem genug.
Sosehr ich verabscheute, was Thorpe getan hatte, ich erkannte, dass sein Buch, seine Antworten mir eine Art Erleichterung gebracht hatten. Doch wie eine mathematische Struktur, die auf einem fehlerhaften Theorem aufgebaut ist, stürzten alle Gewissheiten meines Lebens in sich zusammen.
Am Morgen nach meiner Rückkehr nach San Francisco packte ich meinen Koffer aus. Alles roch nach Reisen, die chemische Luft des Flugzeugs vermischte sich mit dem grünen, feuchten Geruch meines Hotels. Ich hatte drei Pfund Kaffeebohnen in einer Seitentasche des Koffers verstaut, sodass die T-Shirts und Röcke und alles andere außerdem das Aroma von Kaffee angenommen hatten. Nachdem ich meine Sachen in die Waschmaschine gesteckt hatte, ging ich duschen und suchte mir eine saubere Jeans, ein T-Shirt und einen Pulli aus dem Schrank. Die Umgebung vor meinem Fenster war sonnig, aber ich konnte im Westen die Nebelbank erkennen, eine Wand aus gleißendem Weiß, und wusste, dass es in Sunset und Richmond vermutlich diesig und einige Grad Grad kälter war.
Zu Fuß ging ich in die Twenty-Fourth
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