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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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betrachteten den Himmel. Es war der Sommer, bevor Lila auf die Highschool wechselte, unser Stadtteil erlebte gerade einen seiner seltenen Stromausfälle, und wir hatten uns mitten in der Nacht, nachdem unsere Eltern ins Bett gegangen waren, nach draußen geschlichen, um Cupcakes zu essen und unsere Zukunft zu planen. Ich schmeckte die wachsartige Süße der Schokoladenglasur auf den Lippen, zermalmte knirschend die Zuckerperlen zwischen den Zähnen. Überall um uns herum summten und zirpten Insekten. Das waren Geräusche, die ich bisher nur in unserer Hütte am Russian River gehört hatte, nie in der Stadt, und diese nächtlichen Laute in Kombination mit dem Grasgeruch und dem frisch gepflanzten Sternjasmin meiner Mutter gaben mir das Gefühl, eine völlig andere Welt betreten zu haben.
    »Apollo schenkte Orpheus eine Leier, die Lyra«, sagte Lila. »Wenn Orpheus sie spielte und dazu sang, klang das so wundervoll, dass sogar die Tiere bezaubert waren. Eines Tages wurde seine Frau Eurydike durch einen Schlangenbiss getötet. Orpheus war untröstlich. Er konnte nichts essen, konnte nicht schlafen, konnte nur an seine tote schöne Frau denken. Schließlich stieg er hinab in die Unterwelt und spielte und sang für Pluto und Persephone. Wie jeder andere waren auch König und Königin der Unterwelt von seiner Musik betört und erteilten Orpheus die Erlaubnis, Eurydike mit sich
zurück ins Reich der Lebenden zu nehmen. Unter einer Bedingung.«
    Ich hielt den Atem an. Mit Lila unter den Sternen zu liegen, im Garten in einer Nacht ohne Strom, in der mir alles an unserem kleinen Stückchen Land in der Stadt völlig verändert und neu vorkam, war fantastisch. Sie muss es auch gespürt haben, denn sie schob den Arm über das Gras und nahm meine Hand in ihre. »Welche Bedingung?«, flüsterte ich.
    »Er durfte sich nicht umdrehen, bis sie beide die Unterwelt verlassen hatten, sonst würde man ihm Eurydike wieder wegnehmen.«
    »Was ist dann passiert?«
    »Sehr lange hat er sein Versprechen gehalten«, erzählte Lila. »Er ging voran, führte seine Frau hinauf, Schritt für Schritt, bis an die Erdoberfläche. Sie waren schon fast oben angekommen, als er es keine Sekunde länger aushielt, er musste einfach ihre Schönheit sehen und drehte sich um.«
    »Und dann?« Die Götter, dachte ich, würden sicherlich ein Einsehen haben. Immerhin hatte er es den Großteil des Weges geschafft. Und er liebte sie doch so sehr.
    »Als Orpheus die Arme nach ihr ausstreckte«, sagte Lila, »glitt sie fort in die Dunkelheit. Er musste allein in die Oberwelt zurückkehren. Wieder in seiner Heimat Thrakien, war Orpheus so todunglücklich darüber, seine Frau ein zweites Mal verloren zu haben, dass er die Gesellschaft von Frauen vollständig mied. Die Frauen Thrakiens wurden daraufhin furchtbar wütend, sie steinigten ihn und rissen ihn in Stücke und warfen seinen Kopf zusammen mit seiner Leier in den Fluss.«
    Ich hörte ein Geräusch und umklammerte Lilas Hand fester.
    »Zeus war es, der die Leier aus dem Fluss fischte und in den Himmel warf«, sagte Lila. »Komm her.«

    Ich rutschte näher an sie heran, und sie hob die Hand, die noch immer die meine festhielt, gen Himmel. »Hier, an der Spitze meines Zeigefingers ist Wega - siehst du?«
    Ich bemühte mich, den Stern auszumachen. Da waren so viele und sie waren so weit weg - woher sollte ich wissen, welchen sie mir zeigen wollte?
    »Sie ist der rechte obere Punkt des Sommerdreiecks, der zweithellste Stern der nördlichen Hemisphäre. Wenn du Wega gefunden hast, dann findest du auch Lyra.«
    Wir lagen lange dort draußen. Irgendwann schlief ich ein. Als ich wieder aufwachte, stand Lila über mir, das lange Haar nass vom Gras. »Steh auf«, wisperte sie und reichte mir die Hand.
    Einige Tage nach Lilas Verschwinden ging ich nachts in unseren Garten und versuchte, Wega zu finden. Ich lag im Gras, genau wie wir es damals als Kinder getan hatten, doch die Lichter der Stadt waren so hell, dass nur wenige Sterne sichtbar waren. Ich suchte nach dem zweithellsten Stern der nördlichen Hemisphäre. Gerade, als ich mir sicher war, ihn entdeckt zu haben, und mit den Augen am Himmel eine Linie zum oberen linken Punkt der Leier des Orpheus zu ziehen versuchte, merkte ich, dass mein Stern sich bewegte. Es war nicht Wega, nur ein Satellit.
    Dass Lila das Sternbild Lyra erwähnt hatte, lag zu dem Zeitpunkt schon lange zurück, ja, es war sogar schon sehr lange her, dass wir überhaupt ein Gespräch von Bedeutung

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