Niemand, Den Du Kennst
an der Schleife. »Nein, das ist für deinen Geburtstag«, mahnte ich. »Versprich, dass du es erst nächste Woche aufmachst.«
»Versprochen.« Sie nahm meine Hand. »Komm schon. Papa wartet.«
Als wir bei dem kleinen Haus ankamen, stand Jesus auf der Veranda. Er stieg die Stufen herunter und begrüßte mich mit einer Umarmung. Ich hatte ihn fünf Jahre zuvor kennengelernt, als Mike und ich nach Nicaragua gereist waren, um uns einige der neuen Genossenschaften anzusehen, die sich nach
Jahren des Bürgerkriegs zu formieren begannen. Zu der Zeit hatte sich Jesus mit drei anderen kleinen Kaffeepflanzern zusammengeschlossen, um die Kooperative Rosa zu gründen. Mike und ich waren von Anfang an von ihrer Selbstverpflichtung zum Schattenanbau und ihrer Wissbegierde bezüglich der Vorlieben US-amerikanischer Einkäufer von Kaffeespezialitäten beeindruckt gewesen. Seit damals waren noch fünf weitere kleine Betriebe in die Genossenschaft aufgenommen worden, und ihr Kaffee machte sich allmählich einen respektablen Namen.
Jesus lud mich ins Haus ein, wo wir über einem Teller gebratener Kochbananen Geschäftliches besprachen. Hin und wieder ließ mich mein Spanisch im Stich, und Rosa sprang als Dolmetscherin ein. Draußen hörte man laute Stimmen. Jesus’ Frau, Esperanza, kam durch die Tür, Rosas kleinen Bruder Angel auf den Fersen. Ich tauschte Neuigkeiten mit Esperanza aus und spielte ein Weilchen mit den Kindern.
Als Esperanza ging, um Angel zu seinem Mittagsschlaf hinzulegen, folgte ich Jesus durch die Hintertür und über einen Pfad hin zu dem hölzernen Schuppen, der ihm als Verkostungsraum diente. Hinter mir konnte ich Rosa hören, die bloßen Füße leise über die Erde tapsend. Noch nie hatte ich sie mit Schuhen gesehen. Ich konnte mich noch an ihre Füßchen erinnern, als sie ein Baby gewesen war, an die dünnen, geraden Zehen. Einmal hatte ich beobachtet, wie Esperanza das - bis auf eine Stoffwindel - nackte kleine Mädchen hochhob und ihren winzigen Babyfuß in den Mund nahm. Rosa hatte gelacht und in den Armen ihrer Mutter gezappelt. Da hatte ich zum ersten Mal diesen mütterlichen Stich verspürt, von dem andere Frauen so oft sprachen - zum ersten Mal hatte ich mir ausgemalt, wie es wäre, selbst ein Kind zu haben. Einige Tage später, zurück in San Francisco, hatte ich
meinem Freund Henry von Rosas kleinem Fuß erzählt und wie er so perfekt in den Mund ihrer Mutter passte, und wie Jesus mir mit stolzgeschwellter Brust die Wiege aus Holz präsentiert hatte, die er für sein erstes Kind gebaut hatte.
»Das werden wir auch bald haben«, hatte Henry gesagt. Ich war überrascht gewesen, dass diese Vorstellung überhaupt nicht abschreckend für mich war. Ich sah uns beide vor mir, über eine Wiege gebeugt, ein schlafendes Baby betrachtend, das die jeweils besten Merkmale seiner Eltern in sich vereinte - Henrys Nase und Kinn, meinen Mund und die Grübchen.
Im Verkostungsschuppen hatte Jesus drei Proben frisch gerösteter Bohnen bereitgestellt. Während er sie mahlte, erhitzte ich Wasser auf einem Gaskocher. In der Zwischenzeit stellte Rosa neun kleine Gläser auf dem Tisch auf - drei für jede Probe. Jesus löffelte etwas Kaffee in die Gläser, und ich goss das kochende Wasser auf. Das Pulver stieg an die Oberfläche, und Dampf erhob sich von der dunklen Flüssigkeit.
Jesus und ich setzten uns auf Hocker zu beiden Seiten des Tischs. Rosa stellte sich neben ihren Vater, beide beobachteten mich aufmerksam, als ich die Kruste mit einem schweren Silberlöffel aufbrach. Ich liebte diesen Teil des Verkostungsprozesses, wie das Aroma des Kaffees nach oben schwebte, wenn der Löffel durch das feuchte Pulver stieß. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Dann entfernte ich die Kruste und spülte den Löffel in sauberem Wasser ab, bevor ich zu verkosten begann. In den nächsten Minuten gelang es mir, alles andere beiseitezuschieben, die Geschehnisse des gestrigen Tages zu vergessen, während der Kaffee über meine Zunge und meine Kehle hinunterglitt. Ich spuckte den Kaffee beim Verkosten nur selten wieder aus. Es waren nicht nur Geschmack
und Aroma, die mir Ruhe und Klarheit schenkten, sondern auch die Art, wie er mich beim Schlucken wärmte. Und ich mochte, was ich in den Stunden danach fühlte, diesen genussvollen Energieschub, dem irgendwann ein langsames Abflauen folgte.
An diesem Abend stellte ich bei meiner Rückkehr in mein Hotel in Diriomo fest, dass jemand während meiner Abwesenheit in meinem
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