Niemand, Den Du Kennst
Primzahlen geschrieben werden - nur eine Vermutung, statt ein stabiles Theorem zu werden, auf dem andere aufgebaut werden können.
Das, so erklärte Lila mir, sei die besondere Bürde der Mathematik. Beweise in den anderen Wissenschaften beruhen üblicherweise auf einer Gesamtheit von Beobachtungen, die sich zusammengenommen zu einem, wie es den Anschein hat, überwältigenden Nachweis zugunsten einer bestimmten Hypothese summieren. Solche Theorien sind niemals absolut. Wenn neues Beweismaterial auftaucht, das eine anerkannte
Theorie widerlegt, dann landet diese auf dem Müll. Demnach bleibt immer ein gewisses Maß an Zweifel bestehen.
Nicht so in der Mathematik. Um etwas zu einer mathematischen Theorie zu machen, muss es einen absoluten Beweis geben. Wenn eine Theorie erst einmal bewiesen ist, dann stimmt sie für immer und ewig, und die Fortentwicklung mathematischer Kenntnisse hat nicht die Macht, sie zu verändern. Das bedeutet, dass ein Mathematiker einem höheren Beweisstandard genügen muss als jeder andere Wissenschaftler. Nehmen wir zum Beispiel den Satz des Pythagoras, diesen Baustein der Dreieckslogik, der die Grundlage jedes Geometrieunterrichts der sechsten Klasse bildet. Das Prinzip wurde von den Chinesen und Ägyptern schon jahrtausendelang angewendet, als es schließlich um etwa 500 v. Chr. von Pythagoras bewiesen wurde. Mehr als zweitausend Jahre später ist es immer noch wahr und wird es immer bleiben. In alle Ewigkeit können sich Menschen darauf verlassen, dass in einem rechtwinkligen Dreieck das Quadrat der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate der Katheten sein wird.
In den vergangenen achtzehn Jahren war eine Sache in meinem Kopf fest verankert: die Identität von Lilas Mörder. Mein Treffen mit McConnell hatte das verändert. Was McConnell mir hinterließ, war ein Problem. Ich konnte glauben, was er mir erzählt hatte, und damit zulassen, dass die Geschichte meines Lebens, wie ich sie bisher kannte, sich vollständig auflöste. »Was ist das Leben anderes als eine Ansammlung von Geschichten?«, hatte Thorpe gesagt. Thorpes Geschichte von Lilas Tod war zu meiner eigenen geworden; sie war die Fensterscheibe, durch die ich bisher mein gesamtes Erwachsenenleben lang die Welt betrachtet hatte. Wenn ich mich entschloss, McConnell zu glauben, musste ich der Möglichkeit ins Auge sehen, dass Lilas Mörder nie gefunden
würde, dass der Mensch, der das Verbrechen in Wirklichkeit begangen hatte, alle hinters Licht geführt und keinen Preis für seine Tat bezahlt hatte. Oder ich konnte weiter an Thorpes Version der Ereignisse glauben, in welchem Fall es trotzdem keine Gerechtigkeit für meine Schwester, aber wenigstens eine Antwort gäbe - eine Antwort, die irgendwie logisch war, eine Geschichte mit Anfang, Mittelteil und Schluss.
11
AM NÄCHSTEN TAG ließ ich die Geschehnisse des Abends im Geiste noch einmal Revue passieren - das Treffen in dem Café, den Spaziergang zur pensión , das lange Gespräch in meinem Zimmer. Im hellen Licht des Morgens nahm die vergangene Nacht die verschwommenen Konturen eines Traums an. Ich öffnete das Nachtschränkchen, in dem ich den Rum aufbewahrte. Fast rechnete ich damit, dass die Flasche voll, die Gläser unbenutzt wären; doch sie war halb leer und die Gläserböden von einem bernsteinfarbenen Film bedeckt. Auf dem weißen Fliesenboden der geisterhafte Abdruck von McConnells großen Schuhen.
Ich frühstückte unten mit José und seiner Frau - starken Kaffee, gebackene Bohnen und warme Tortillas. José fragte mich nicht nach dem Fremden in meinem Zimmer, aber er und seine Frau sahen mich anders an als sonst. Ihr übliches freundliches Geplauder war Schweigen gewichen. Ich hatte das unbehagliche Gefühl, sie unangenehm überrascht und enttäuscht zu haben, indem ich - was untypisch für mich war - einen Mann mit aufs Zimmer nahm.
Um halb zehn traf ein Wagen ein, der mich zu Jesus’ Plantage bringen sollte. Der Weg verlief fünfundzwanzig Kilometer lang über eine holprige, ungeteerte Straße, die Morgensonne brannte durch die Scheiben. Der Fahrer rauchte Kette
und sang leise vor sich hin, gelegentlich warf er mir einen Blick im Rückspiegel zu. Auf dem Sitz neben mir lag meine Tasche mit Portemonnaie, einigen kleinen Geschenken und meinen Verkostungsaufzeichnungen. Letztere befanden sich in einem dicken, zerfledderten, großen schwarzen Notizbuch, in das ich meine Eindrücke von verschiedenen Bohnensorten eintrug. Das Buch hatte mich auf meinen beruflichen
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