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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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verstrichen, bevor ich nach Kalifornien zurückfliegen konnte. Da war es zu spät. Henry war schon dabei, seine Sachen zu packen. Er sagte, er habe alles »neu überdacht«. Er ziehe an die Ostküste, um noch einmal von vorne anzufangen. Kein Argument und auch kein Bitten und Flehen meinerseits konnten ihn davon abbringen. Ich versuchte, ihm das Feuerzeug zu geben - ich wusste nicht, was ich sonst damit anfangen sollte -, aber er wollte es nicht annehmen. Letztendlich legte
ich es in eine Holzschachtel auf meiner Kommode, in der ich meine spärliche Kollektion von Ohrringen und Ketten aufbewahrte, und jedes Mal, wenn ich die Schachtel aufklappte, um ein Schmuckstück herauszunehmen, lag da das silberne Feuerzeug, eine Erinnerung an unseren schrecklichen, dummen Streit und Henrys anschließende Abreise. Aus irgendeinem Grund konnte ich mich weder dazu überwinden, das Feuerzeug wegzuwerfen oder zu verschenken, noch einen anderen, besseren Platz dafür in meiner Wohnung zu finden, der Wohnung, die Henry und ich uns beinahe zwei Jahre lang geteilt hatten. Schließlich räumte ich meinen Schmuck in eine kleinere Porzellandose um, doch die Holzschachtel stand immer noch dort auf meiner Kommode, ein Behältnis für einen Gegenstand, den ich weder benutzen noch wegwerfen konnte.
    Nun lag ich auf meinem Bett in Diriomo und dachte an diese seltsame und schmerzliche Zeit, dachte daran, wie die wichtigste Beziehung meines Erwachsenenlebens sich einfach ohne Vorwarnung aufgelöst hatte, in einem Raum, der diesem hier sehr ähnlich war. Da fiel mein Blick auf das Nachtschränkchen neben dem Bett, und ich bemerkte, dass der kleine Bücherstapel darauf offenbar in die Höhe gewachsen war. Eins nach dem anderen nahm ich die Bände in die Hand: ein frisch erschienener Überblick über die indigenen Völker Nicaraguas; ein Roman vom Freund eines Freundes, den ich in San Francisco kennengelernt hatte; die letzte Ausgabe der Zeitschrift Fresh Cup . Doch unter diesen vertrauten Gegenständen lag etwas anderes, etwa so groß wie ein Buch, eingewickelt in einfaches braunes Papier. Das, so viel wusste ich mit Sicherheit, hatte ich nicht mitgebracht.
    Ich stand auf und überprüfte, ob die Tür verschlossen war, zog die Vorhänge zu und stand mit dem Päckchen in der Hand da, als könnte es etwas Gefährliches enthalten. Dann
legte ich es auf den Tisch und starrte es ein oder zwei Minuten lang nur an. Schließlich nahm ich es wieder in die Hand, drehte es um und löste die beiden Tesafilmstreifen mit dem Fingernagel. Als ich das Papier abwickelte und das verblasste blau karierte Muster vor Augen hatte, konnte ich zuerst nicht glauben, was ich sah. Doch nachdem ich die erste Seite aufgeschlagen hatte, stand außer Zweifel, was da vor mir auf dem ramponierten Hoteltisch lag: Es war Lilas Notizbuch, eben jenes, das fast zwanzig Jahre zuvor zusammen mit ihr verschwunden war.

12
    WIE SOLL MAN dieses Notizbuch beschreiben?
    Mir, für die mathematische Formeln undurchschaubar waren, erschien es wie ein Buch voller Mysterien. All diese Jahre war es mir in Erinnerung geblieben, das Notizbuch meiner Schwester, der verlorene Gegenstand, der in meiner Vorstellung ihre tiefsten Geheimnisse enthalten musste. Mit einem Gefühl von Ehrfurcht schlug ich es auf, und da waren sie, genau, wie ich sie im Gedächtnis hatte, die erhabenen Ziffern, Buchstaben und Symbole, die quer und längs über die Seiten marschierten. Lilas Handschrift war in ihrer Klarheit wunderschön. Ich bewunderte den dunkleren Abdruck der Tinte am Endpunkt einer jeden Zahl, als hätte sie dort kurz verweilt, bevor sie zur nächsten überging, als wäre jedes einzelne Zeichen nicht lediglich ein Teil eines größeren Ganzen für sie, nicht nur eine Zahl in einer Formel, sondern ein Individuum, eine Welt für sich.
    Auf der ersten Seite stand in ihrer winzigen, säuberlichen Schreibschrift:
     
    Ein mathematischer Beweis sollte einem einfachen und klaren Sternbild gleichen, nicht einem zerstreuten Haufen in der Milchstraße.
    G. H. Hardy

    Unter dem Zitat hatte sie mit einem schwarzen Filzstift die sechs Sterne des Sternbilds Lyra skizziert. Mit Bleistift waren die Linien zwischen den einzelnen Sternen eingezeichnet und deren Namen danebengeschrieben: Wega, Sheliak, Sulafat, Epsilon, Aladfar, Alathfar.
    »Wer hat schon jemals von Lyra gehört?«, fragte ich sie einmal, als sie mir erzählte, es sei ihr Lieblingssternbild. Wir lagen im kühlen, feuchten Gras in unserem Garten und

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