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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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schob sich knapp über ihr Knie hoch. Die Handtasche ruhte auf ihrem Schoß. In dem Zwischenraum zwischen den beiden Vordersitzen hielten sie und mein Vater sich an den Händen. Als das Auto langsam rückwärts auf die Straße einbog, spürte ich einen Anflug von Panik.
    Ich saß am Küchentisch und wartete, starrte auf die Uhr. Um 17:43 klingelte das Telefon. Es war mein Vater. Er rief
von dem Apparat im Leichenschauhaus an, und die Verbindung war schlecht. Im Hintergrund lief Fahrstuhlmusik, »Little Surfer Girl« von den Beach Boys. Angestrengt versuchte ich, die Worte meines Vaters zu verstehen, und ließ ihn zweimal wiederholen. »Die Identifikation war positiv.« Selbst als ich mir der eigentlichen Worte sicher war, hatte ich noch Mühe, ihre Bedeutung zu begreifen. »Ihre Kette fehlt«, fügte er hinzu, mehr als Frage denn als Aussage, und ich dachte an das dünne Goldkettchen, das sie immer trug, mit dem winzigen Topas an einem zarten Goldanhänger. Die Kette war ein Geschenk von mir zu ihrem achtzehnten Geburtstag gewesen, gekauft von drei Monate lang gespartem Babysittergeld. Mein Vater sprach weiter. »Der Gerichtsmediziner hat als Todesursache stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf angegeben.«
    In diesem Moment hinterfragte ich nicht seinen seltsam monotonen Tonfall oder dass er solch grauenhafte Nachrichten am Telefon übermittelte, während ich allein zu Hause war. Im Nachhinein würde mir klarwerden, dass er vor Schock und Trauer von Sinnen gewesen war; in diesem Augenblick konnte man von ihm keine rationalen Entscheidungen erwarten. Als ich auflegte, dachte ich an das Auto. Inwiefern hätte es die Kette der Ereignisse verändert, wenn ich es Lila am Mittwoch auf ihre Bitte hin gegeben hätte? Hätte ich nicht an meinen Zahnarzttermin gedacht, wäre Lila dann noch am Leben?
    Einmal, als sie versucht hatte, mir das merkwürdige Konzept der imaginären Zahlen zu erklären, hatte Lila Leibniz zitiert, der die imaginäre Zahl als »Amphibium zwischen Sein und Nichtsein« bezeichnete. Nach dem Tod meiner Schwester fühlte ich mich manchmal, als wäre ich selbst in einem solchen Zustand gefangen. Mein ganzes Leben lang war ich Lilas kleine Schwester gewesen. Dann, ohne Vorwarnung,
wurde ich ein Einzelkind. Ich muss meinen Eltern hoch anrechnen, dass sie ihr Bestes gaben, unseren Familiensinn aufrechtzuerhalten, die Harmonie nachzubilden, die uns verbunden hatte, bevor Lila starb. In einer Welt, in der »zerrüttet« der gängige Ausdruck für häusliches Leben war, hatten wir es als Privileg betrachtet, eine glückliche Familie zu sein. Doch egal wie ausgeglichen eine Familie auch sein mag, egal wie schwer es für die einzelnen Mitglieder ist, weiterzuleben, Trauer ist nichts, was man einfach bewältigen kann. Die Gestalt unserer Familie hatte sich verändert.
    Beinahe unmittelbar begann ich, die Welt in Vorher und Nachher einzuteilen. In meinen Erinnerungen an das Vorher war da eine gewisse Leichtigkeit der Empfindung, eine Intensität der Farben, das gemütliche Chaos des Familienlebens. Das Nachher war eine vollkommen andere Sache. Das Nachher bestand aus Schwere: die Schwere der Schuld und die der Trauer. Die Fensterläden waren geschlossen, das Haus war still. Abends hielt sich meine Mutter in ihrem Garten auf, wühlte im Schein der Taschenlampe heftig in der Erde, riss Unkraut aus und setzte Blumenzwiebeln. Nach Mitternacht hörte ich sie durch die Hintertür hereinkommen, ihre kleine Schaufel und die Gartenschere in den großen Blecheimer in der Garage werfen. Dann ein paar Sekunden Stille, gefolgt von dem Rauschen von Wasser in Rohren, dem Geräusch der Waschmaschine, die bebend zum Leben erwachte. Danach ihre Schritte auf der Innentreppe von der Garage ins Hauptstockwerk des Hauses und kurz darauf das Prasseln der Wasserstrahlen in die Duschwanne. Währenddessen saß mein Vater auf dem Holzstuhl im elterlichen Schlafzimmer und las, ein Glas Wasser auf dem Tisch neben sich. Es war kein bequemer Stuhl; vorher hatte er immer im Wohnzimmersessel gelesen, eine Hand um ein Weinglas gelegt, Bob Dylan oder
Johnny Cash leise im Hintergrund spielend. Nachher gab es keinen Wein mehr, keine Musik.
    Einige Jahre nach Lilas Tod griff ich auf einem Flohmarkt in Collingwood in einen Karton und zog eine alte gebundene Ausgabe von Graham Greenes Das Ende einer Affäre heraus. Der Umschlag war zerrissen und mit Tesafilm wieder zusammengeklebt worden, und die Seiten waren wellig und aufgequollen. Ein Aufkleber vorne

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