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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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auf dem Buch verkündete 25 Cent . Es war ein warmer Samstagmorgen im September, das ganze Wochenende dehnte sich vor mir aus. Ich hatte nichts vor, und die Sonne fühlte sich gut auf meinen nackten Armen an, also blätterte ich zur ersten Seite. »Eine Geschichte hat weder Anfang noch Ende«, hieß es da, »willkürlich wählt man den Moment, von dem aus man ein Erlebnis rückschauend betrachtet oder sich vorstellt, wie es weitergeht.« Es war Andrew Thorpes altes Motto, dort, schwarz auf weiß.
    Zweimal, dreimal überflog ich die Zeilen, um sicherzugehen, dass ich richtig las. Dann legte ich einen Vierteldollar auf den Tisch, klemmte mir das Buch unter den Arm und lief los. Es geschah nicht zum ersten Mal, ich nahm an, dass es wieder geschehen würde: Gerade wenn ich glaubte, die Vergangenheit abgehängt, Lilas Geschichte hinter mir gelassen zu haben, tauchte etwas Unerwartetes auf und brachte alles wieder zurück. Es konnte überall passieren, jederzeit: ein flüchtiger Blick auf jemanden, der ihr ähnlich sah, eine Meldung in den Nachrichten über irgendeine bedeutende mathematische Entdeckung, ein paar Takte eines bestimmten Lieds im Radio, die Rezension eines der Bücher von Andrew Thorpe.
    Es hätte mich nicht überraschen sollen, dass der Mann, der seine Karriere auf Lilas Geschichte aufgebaut hatte, sich die Worte des Schriftstellers aneignete. Was mich enttäuschte, war meine eigene Leichtgläubigkeit, meine Bereitschaft, zu
glauben, was man mir erzählte, ohne es auf Mängel zu überprüfen, ohne jemals die Quelle in Zweifel zu ziehen.
    Jede Geschichte ist eine Erfindung, den Launen des Autors unterworfen. Für das Publikum jenseits der Buchseiten marschieren die Worte mit einer gewissen Unvermeidlichkeit voran - als könnte die Geschichte nur auf eine Weise existieren, nämlich auf die, in der sie geschrieben ist. Doch es gibt nie nur eine einzige Weise, eine Geschichte zu erzählen. Jemand hat den Anfang und das Ende gewählt. Jemand hat gewählt, wer sich als Held oder Heldin herausstellen wird und wer den Schurken spielt. Jede Wahl wird auf Kosten einer unendlichen Anzahl von Variationen getroffen. Wer will schon entscheiden, welche Version der Geschichte der Wahrheit entspricht?

3
    IN DEM JAHR NACH LILAS TOD führte Andrew Thorpe Dutzende von Interviews, unter anderem mit dem Herausgeber des Stanford Journal of Mathematics , drei von Lilas Professoren und mehreren Kommilitonen. Hätte es Freunde gegeben, hätte Thorpe auch sie interviewt, aber Lila war schon immer mehr an Zahlen interessiert gewesen als an Menschen. Selbst meine Eltern vertrauten sich Thorpe bei einigen Gelegenheiten an - doch das war, bevor wir wussten, dass er ein Buch zu schreiben plante.
    Noch ehe er mit irgendjemand anderem sprach, sprach Thorpe mit mir. Während meines dritten Semesters an der University of San Francisco war er mein Dozent für Zeitgenössische Amerikanische Literatur. Lila starb Anfang Dezember, als sich das Semester dem Ende zuneigte. Drei Wochen nach ihrer Beerdigung verabredete ich mich mit Thorpe in einem Café gegenüber dem Campus, weil ich es nicht geschafft hatte, meine Abschlussarbeit abzugeben. Ich war im Herbst einige Male wegen eines Semester-Projekts über Richard Yates und Zeiten des Aufruhrs in seiner Sprechstunde gewesen. Jedes unserer vorherigen Gespräche war weit vom Thema abgekommen und hatte die ursprünglich anberaumte Stunde deutlich überschritten. Ich hatte Thorpe als locker und humorvoll kennengelernt, vielseitig bewandert und zudem
gerne bereit, zuzugeben, dass er ein Fan von Actionfilmen, der Band Tears for Fears und Dosenravioli war. Eigentlich kam er aus Tuscaloosa, Alabama, und man konnte noch eine Spur von Akzent heraushören, was ich charmant fand. Obwohl er erst dreißig Jahre alt und genau genommen noch Assistent war, gehörte er zu den besten Lehrern, die ich je gehabt hatte.
    »Kein Problem«, sagte er, als ich ihn um eine Fristverlängerung bat. »Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.« Wir saßen auf einem alten Zweiersofa, das in einer Nische des Cafés stand. Er hatte darauf bestanden, mir einen Kaffee und ein Sandwich zu kaufen, das ich kaum angerührt hatte.
    »Keinen Hunger?«
    Ich nahm das Sandwich in die Hand, legte es wieder weg. »In den vergangenen drei Wochen sind Leute mit den tollsten Sachen bei uns zu Hause aufgetaucht, aber es ist einfach unmöglich, etwas zu essen. Allein der Gedanke an Essen scheint absurd. Irgendwann haben wir angefangen, es an

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