Niemand, Den Du Kennst
Kabuff.« Ihre Stimme versagte. »Ich dachte, du hättest die Sachen weggegeben.«
All die Jahre hatte sie nichts davon geahnt, dass Lilas Sachen nur wenige Meter entfernt von dem Bett, in dem sie schlief, gelagert waren. Ich machte im Büro früher Schluss und fuhr zu dem Haus, in dem ich aufgewachsen war. Zusammen sahen meine Mutter und ich die Kisten durch. Unter
den Sachen, die wir fanden, war ein altes Album von Cat Stevens aus dem Jahr 1975 mit dem Titel Numbers . Obwohl es als eine von drei Platten neben Izitso und Back to Earth in einem Sammelschuber erschienen war, besaß Lila nur Numbers . Einige Monate lang hatte sie die Platte jeden Tag nach der Schule aufgelegt, so häufig, dass die Lieder sich mir einprägten. Irgendwann dann hörte sie auf, sie zu spielen, und ich hatte sie vollkommen vergessen. Jetzt staubte ich sie ab und las die Songtitel auf der Rückseite. Sofort wurde eine Synapse in meinem Gehirn aktiviert und löste einen verworrenen Strom von Melodien und dazugehörigen Texten aus. Mein erster Impuls war, die Platte abzuspielen, doch dann wurde mir bewusst, dass es nichts mehr zum Abspielen gab. Meine Eltern hatten ihren Plattenspieler vor langer Zeit abgeschafft, und mir fiel kein einziger Mensch ein, der noch einen besaß.
»Wenn du sie wirklich hören möchtest, dann kannst du sicher auf eBay einen Plattenspieler finden«, meinte meine Mutter.
»Ja, vielleicht mache ich das«, sagte ich. Aber das tat ich nie.
27
»VORNAME STEVE«, sagte Thorpe, »Nachname S-t-r-a-c-h-m-a-n.«
Wir saßen an einem Montag im Café Simple Pleasures mit Blick auf die Straße. Früher am Abend hatte ich einen Termin mit dem Eigentümer Ahmed gehabt, der schon seit den Achtzigern seine Kaffeebohnen bei Golden Gate Coffee kaufte. Obwohl wir ihn immer noch mit den Bohnen belieferten, röstete er seit Neuestem in einem Ladenlokal zwei Türen weiter selbst. Die wunderschöne bronzene Röstmaschine stand direkt im Schaufenster, und gegen vier Uhr nachmittags versammelten sich die Kinder aus der Nachbarschaft auf dem Bürgersteig, um sie grollend zum Leben erwachen zu sehen. Heute gab es Live-Musik im Café, und ein Folksänger namens Patrick Wolf baute in der kleinen Nische neben der Küche sein Equipment auf.
Ich notierte mir den Namen Steve Strachman in mein Büchlein und buchstabierte ihn Thorpe noch einmal, um zu überprüfen, ob ich ihn richtig geschrieben hatte. »Kommt mir vage bekannt vor«, sagte ich.
»Er studierte am mathematischen Institut von Stanford«, erklärte Thorpe. »Er war ein Anwärter auf den Hilbert-Preis.«
»Den Lila eigentlich bekommen sollte.«
Thorpe nickte.
Der Hilbert-Preis wurde alle zwei Jahre im Februar an einen vielversprechenden Doktoranden für die Arbeit an einem der berühmten dreiundzwanzig ungelösten Probleme von Hilberts Liste verliehen. Man munkelte, dass 1990 Lilas Jahr sein sollte. Der Preis war in den Monaten vor ihrem Tod eine Art Leuchtfeuer am Horizont für sie gewesen. Die Aussicht, ihn zu gewinnen, machte sie ganz schwindlig.
»Zur selben Zeit, als Lila an Goldbach arbeitete«, fuhr Thorpe fort, »beschäftigte sich Strachman mit der Vermutung von Hodge. Wohlgemerkt, das gehört nicht zu Hilberts Liste, aber Strachman glaubte, dass Fortschritt bei Hodges Vermutung letzten Endes auch Aufschluss über die Riemannsche Hypothese geben würde. Wie Lila war er eine Art Wunderkind. Er hatte als Schüler durch die Internationale Mathematik-Olympiade 1982 auf sich aufmerksam gemacht. Soweit ich meinen Interviews entnehmen konnte, war er nicht sonderlich beliebt in Stanford. Er war arrogant, ehrgeizig, verärgerte die anderen Studenten damit, dass er sie über ihre Projekte auszuhorchen versuchte, Gespräche verfolgte, ohne je selbst etwas beizutragen. Mathematiker sind als Gruppe extrem eng vernetzt, tauschen ständig Informationen aus. Aber Strachman war ein berüchtigter Geheimniskrämer. Immer, wenn er eine Idee hatte, die seiner Ansicht nach besonders interessant oder wertvoll war, schickte er sie sich selbst per Post in einem versiegelten Umschlag, um notfalls beweisen zu können, wann er sie zuerst vermerkt hatte. Er hatte so panische Angst, jemand könnte seine Ideen stehlen, dass er seine Notizbücher und die ganzen versiegelten Umschläge in einer verschlossenen Schublade zu Hause aufbewahrte. Und hier kommt noch ein eigenartiges kleines Detail - einmal wurde die Polizei wegen Ruhestörung zu seinem Elternhaus gerufen. Offenbar hatte er seine Mutter
dabei
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