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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Damon Gough beim Plattenkaufen im Street Light gesehen«, erzählte ich. »Und vor ein paar Jahren habe ich Nick Cave am Ocean Beach getroffen. Es war ein komischer, nebliger Tag, niemand außer den Surfern dort. Ich sitze so auf einem Baumstamm und starre in die Wellen, und da kommt diese große, spindeldürre Gestalt ganz in Schwarz am Strand entlang auf mich zu. Zuerst habe ich mich erschreckt, bis ich ihn erkannt habe. Er sagte Hallo, und ich murmelte nur etwas Dümmliches wie ›Schöner Tag für einen Spaziergang‹. Zu Hause sah ich dann in der Zeitung nach - er gab an dem Abend ein Konzert im Fillmore.«
    »Ach ja«, sagte Ben. »Bei dem Konzert war ich dabei, backstage. Hinterher habe ich ihn interviewt. Netter Typ.«
    »Wie cool.«
    »Cool?« Er grinste. Am liebsten hätte ich mich unter dem Schreibtisch verkrochen. Neben Ben hatte ich das Gefühl, ein ziemlich langweiliges Leben zu führen. Das war ein weiteres Problem in San Francisco: Menschen meiner Generation fühlten sich fast zwangsläufig spießig.
    In den Regalen in Bens Arbeitszimmer standen Dutzende von Stehsammlern, beschriftet mit Datum und Name des
Publikationsorgans. Während ich mir die Etiketten ansah, wühlte er auf der Suche nach der Kassette in einer riesigen Schublade.
    »Sind Sie in all diesen Zeitschriften vertreten?«, fragte ich.
    »Mhm.«
    »Das muss ja ganz schön toll sein, der Nachwelt etwas von sich zu hinterlassen.«
    Ben sah auf. »Es geht darin nicht um mich, meine Liebe. Ich bin nur der Beobachter.«
    Ich stellte mich neben ihn und blickte ihm über die Schulter. In der Schublade lagen Hunderte von Kassetten, offenbar ohne jegliche Ordnung. Nach ungefähr zehn Minuten gab er auf.
    »Sorry«, sagte er. »Vielleicht habe ich sie verliehen.«
    Ben schaltete das Licht aus, und wir gingen wieder nach oben. Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock blieb er stehen. »Nur aus Neugier«, sagte er. »Warum machen Sie das jetzt, nach all der Zeit?«
    Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. Ich konnte nachvollziehen, dass es aus Sicht eines Fremden möglicherweise sinnlos wirkte. »Darf ich Ihnen etwas zeigen?«
    »Aber sicher.«
    Ich holte meine Handtasche von der Couch und zog Lilas Notizbuch heraus. Die Geschichte des Buches und wie es in meinen Besitz gelangt war, hatte ich Ben schon erzählt. »Es klingt vielleicht seltsam«, begann ich, »aber in den vergangenen Wochen, seit ich ihr Notizbuch immer bei mir trage, fühle ich mich Lila näher als je zuvor seit ihrem Tod. Es ist beinahe, wie ihre Stimme zu hören.«
    »Das kann ich verstehen.«
    »Schon mal von der Keplerschen Vermutung gehört?«
    »Nein.«

    Ich legte das Buch auf den Tisch und blätterte durch die Seiten. »Sie wurde erstmals 1611 von Johannes Kepler formuliert. Keplers Interesse an dem Problem wurde durch den Briefwechsel mit einem Engländer namens Thomas Harriot geweckt. Der wiederum wollte seinem Freund Sir Walter Raleigh dabei helfen, die beste Stapelform für Kanonenkugeln auf Schiffsdecks zu finden. Das Ziel war, die höchste Dichte in der Anordnung zu ermitteln, um so viele Kanonenkugeln wie möglich auf einem Schiff unterzubringen.«
    »Okay«, sagte Ben. Er muss sich gefragt haben, worauf ich hinauswollte, doch er lauschte geduldig, als fände er es vollkommen normal, dass eine fremde Frau in seinem Wohnzimmer steht und ihm einen Vortrag über Mathematik hält.
    »Die Keplersche Vermutung besagt, dass die größte Dichte aufeinandergestapelter Kugeln folgendermaßen erreicht wird.« Ich hielt ihm das Notizbuch hin, in dem Lila notiert hatte:
    »Um diese Dichte zu erreichen, wird die unterste Ebene des Stapels in einem sechseckigen Gitter angeordnet. Die nächste Schicht wird auf die tiefsten Punkte der untersten gelegt. Jede Ebene folgt diesem Muster, bis hin zur Spitze der Pyramide, einer einzigen Kugel. Im Prinzip genau so, wie ein Obsthändler Orangen stapelt.«
    »Verstehe«, nickte er.
    »Die Keplersche Vermutung klingt vollkommen logisch«, sagte ich.
    »So ist es«, bestätigte Ben.
    »Aber jetzt kommt’s. Die Vermutung wurde nie bewiesen, bis heute nicht. Ich habe es nachgeschlagen und entdeckt, dass 1998 ein amerikanischer Mathematiker mit Namen
Thomas Hales endlich einen Beweis vorlegte. 2003 bestätigte eine Kommission, die mit der Verifizierung von Hales’ Beweis beauftragt worden war, dass sie zu neunundneunzig Prozent von der Korrektheit des Beweises überzeugt sei. Doch dieses eine Prozent war der Knackpunkt. Die

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