Niemand, Den Du Kennst
etwas, das ich anfassen konnte, das irgendwie ihre Seele in sich trüge. Dutzende von Malen holte ich die Quadrate in den kommenden Monaten aus der Schublade, wickelte sie aus dem Papier und breitete sie auf meinem Bett aus. Dann ordnete ich sie stundenlang immer wieder neu an, suchte nach einem Zeichen von Lila in den komplizierten Mustern. Als ich in meinem zweiten Jahr auf dem College aus dem Haus meiner Eltern auszog, nahm ich sie mit. Auf meiner Reise durch Europa einige Jahre nach ihrem Tod nähte ich ein paar der Seidenquadrate in mein Rucksackfutter ein. In späteren Jahren hatte ich immer ein oder zwei von ihnen dabei, wenn ich unterwegs war.
Danach ging ich zurück in Lilas Zimmer und öffnete die Schranktür. Alle Bügel waren weiß, und ihre Haken zeigten in dieselbe Richtung. Zuerst kamen die Blusen, dann Röcke, Hosen und Kleider. »Behalte die Sachen, die du tragen möchtest, und verschenk den Rest an Lilas Freundinnen«, hatte meine Mutter an dem Morgen zu mir gesagt, bevor sie mit meinem Vater nach Napa zur Hochzeit eines Freundes fuhr. Im Nachhinein, aus der Sicht der Erwachsenen, fand ich es so seltsam, dass meine Eltern mich allein mit den Geistern in Lilas Zimmer gelassen hatten; doch damals schrieb ich es einfach der
Gedankenverlorenheit und dem merkwürdigen Verhalten zu, das sie beide seit Lilas Tod nicht abschütteln konnten.
Dort, allein in Lilas kleinem begehbarem Kleiderschrank, schob ich die Bügel hin und her und dachte an das, was meine Mutter mir morgens gesagt hatte. In was für einer Welt lebte sie, dass sie an eine Schar von Phantomfreundinnen glaubte, die nur darauf warteten, Lilas alte Kleider zu bekommen? Trotz all ihrer Bemühungen, liebende, Anteil nehmende Eltern zu sein, hatten sie nie richtig begriffen, was für eine Einzelgängerin Lila war. Und allmählich begann ich mich zu fragen, ob ich sie vielleicht auch die ganze Zeit über falsch eingeschätzt hatte. Ich hatte angenommen, dass sie all diese Freitag- und Samstagabende freiwillig zu Hause bei ihrer Familie verbrachte, weil es ihr so gefiel. Doch möglicherweise hätte sie gerne Bekannte und einen Freund gehabt, hatte aber nicht gewusst, wie sie das anstellen sollte.
Am Ende kaufte ich in einem Haushaltswarenladen um die Ecke mehrere große Plastikbehälter, in denen ich die roten Schachteln, den Nähkorb, die Bücher und Hefte und Bettwäsche verstaute. Das Einzige, was ich selbst behielt, war Lilas abgegriffene Ausgabe von G. H. Hardys berühmter Schrift A Mathematician’s Apology , ein schmaler Band, den ich in den kommenden Jahren mehrmals lesen würde, beeindruckt von den schlichten Worten, mit denen Hardy die Schönheit der reinen Mathematik beschrieb.
Einen nach dem anderen schleppte ich die Plastikbehälter in den Wandschrank meiner Eltern, wo ich sie durch die kleine Luke auf die Zwischendecke durchschob. Als alle Kisten untergebracht waren, holte ich mir eine Taschenlampe und wagte mich in das muffige, heiße Kabuff, kletterte durch Spinnweben und über Wollmäuse. Ich rückte die Behälter in die hinterste Ecke. Niemand ging je dort hinein. Nicht ohne
beträchtliche Gewissensbisse führte ich mir vor Augen, dass Lilas Habseligkeiten dort ganz alleine wären. Ich wusste, meine Mutter würde mich nicht fragen, was ich damit gemacht hatte. Eingebettet in die Abreise meiner Eltern nach Napa an diesem Morgen war ein Auftrag gewesen: Sie wollten, dass Lilas Sachen verschwanden, und die Verantwortung dafür lag bei mir.
Später sollte ich bereuen, dass ich an diesem Nachmittag den einen Menschen angerufen hatte, dem ich mich anvertrauen konnte, Andrew Thorpe. Immer noch aufgewühlt von den Ereignissen des Tages, ließ ich ihn in unser Haus und erzählte ihm alles.
»Darf ich es sehen?«, hatte er gefragt.
Also führte ich ihn ins Schlafzimmer meiner Eltern und öffnete die Luke zur Zwischendecke. Dann sah ich zu, wie er sich bückte und hineinkroch, mit der Taschenlampe über die Kisten leuchtete. Ich hatte keine Ahnung, warum er diesen verstaubten Stauraum sehen wollte, konnte mir sein Interesse an Lilas alten Sachen nicht erklären. Erst später würde mir klarwerden, dass er um der Authentizität willen dort hineingegangen war - damit er die Beengtheit dieses Raums, seinen muffigen Geruch, den bläulichen Schimmer der billigen Plastikkisten beschreiben konnte.
Viele Jahre danach, als meine Mutter das Haus zum Verkauf anbot und nach Santa Cruz zog, erhielt ich einen Anruf von ihr. »Ich war in dem
Weitere Kostenlose Bücher