Niemand, Den Du Kennst
mathematische Welt wartet bis heute auf die Veröffentlich der Daten, die die Keplersche Vermutung endgültig beweisen.«
»Pech für Thomas Hales«, meinte Ben.
»Das sehe ich auch so. Aber es leuchtet ein, dass sie ganz sicher sein müssen, oder? Die Sache ist die - ich bin mir zu neunundneunzig Prozent sicher, dass Peter McConnell Lila getötet hat. Aber bis ich nicht diesen endgültigen Beweis finde, bis ich nicht alles fein säuberlich aufeinanderstapeln und einen Sinn darin erkennen kann, ist alles bloße Vermutung. Ich muss einfach ganz sicher sein. Klingt das einleuchtend?«
»Das klingt absolut einleuchtend«, sagte Ben und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich wünsche Ihnen Glück, meine Freundin.«
26
EINES FREITAGS, sechs Monate nach Lilas Tod, ging ich auf die Bitte meiner Mutter hin in ihr Zimmer, um ihre Sachen durchzusehen. Mir war von vorneherein klar, dass ich nicht in der Lage sein würde, auch nur ein einziges Stück wegzuwerfen. Dass Lila nicht zum Hamstern neigte, hätte die Sache vereinfachen sollen. Doch was ihrem Besitz an Quantität fehlte, wurde durch die Intensität wieder wettgemacht, mit der sie an ihren Sachen hing. Jeder Gegenstand im Zimmer war ihr lieb und teuer gewesen. Es war wenig zu sortieren, da Lila beinahe zwanghaft ordentlich gewesen war. Die meisten ihrer Besitztümer passten in eine Reihe von roten Aufbewahrungsboxen, die sie in den hohen Regalen neben ihrem Schreibtisch stapelte, jede Schachtel mit einer weißen Karte etikettiert, auf die sie mit Schreibmaschine den Inhalt notiert hatte: Andenken , Buchhaltung , Korrespondenz . Ihre Mathematikhefte befanden sich auf einem Regalbrett über ihrem Schreibtisch, nach Datum und von links nach rechts sortiert. Ihre Nähmaschine stand auf einem Holztisch, der genau in den Erker passte; unter dem Tisch war ein Korb mit Garn, Schere, Garnspulen, einem Nadelkissen und einem schmalen Schneidelineal aus Metall. In den Tagen vor ihrem Verschwinden hatte sie an einem Patchworkrock gearbeitet, und auf dem Tisch links neben der Nähmaschine lag ein ordentlicher
Stapel Seidenquadrate in unterschiedlichen Mustern und Farben. Ich nahm die Stoffstücke in die Hand und legte sie auf ihr Bett. Nichts davon schien zusammenzupassen, doch ich wusste, hätte Lila ihren Rock fertig genäht, dann hätte es irgendwie funktioniert. Lila nähte, seit sie in der dritten Klasse einen Kindernähkurs besucht hatte. Danach brachte sie sich selbst neue Techniken bei und war mit jedem Kleidungsstück versierter geworden. Mehr als einmal hatte sie versucht, es mir zu zeigen, aber mir hatte immer die Geduld gefehlt. Meine Säume waren unsauber, meine Reißverschlüsse und Knöpfe hingen schief, die Proportionen stimmten hinten und vorne nicht.
»Warum machst du das?«, fragte ich sie einmal während einer dieser aussichtslosen Nähstunden. »Du weißt, wie Mom mit Klamotten ist. Sie würde dir kaufen, was immer du haben willst.«
Lila hatte eine Nadel zwischen den Zähnen und ein Trennmesser in der Hand und löste gerade einen Abnäher, den ich dilettantisch in einen gerade geschnittenen Rock gepfuscht hatte. »Es gibt mir ein ruhiges Gefühl«, sagte sie, die Worte leicht verzerrt durch die Nadel. »Nähen hat viel Ähnlichkeit mit Mathe. Man sucht nach dem elegantesten Ergebnis, setzt die Dinge auf eine präzise, unerwartete und letztendlich wunderschöne Art und Weise zusammen.« Sie hielt den Stoff gegen das Licht. »Da!«, sagte sie, als sie den Abnäher entfernt hatte. »Jetzt machen wir das Ganze noch mal neu.«
An jenem Freitag, allein in Lilas Zimmer, konnte ich ihre Stimme immer noch klar im Kopf hören, als wäre sie bei mir, aber ich fragte mich, wie lange das wohl noch anhalten würde. Meine Eltern hatten erst vor wenigen Jahren eine Videokamera gekauft. Wir hatten nur sehr wenige Aufnahmen von Lilas Stimme. Ich wusste, an irgendeinem Punkt müssten die
grundlegenden Spuren eines anderen Menschen im eigenen Kopf verblassen. Ich fürchtete mich vor dem Tag, an dem meine Erinnerungen an Lila sich trüben würden.
Jetzt schlug ich die Stoffquadrate in Seidenpapier ein und legte sie in die oberste Schublade meiner Kommode. Ich war nicht sicher, was ich damit machen würde. Keinen Rock, wie Lila es vorgehabt hatte, das bekäme ich niemals vernünftig hin. Aber ich dachte mir, ich könnte vielleicht jemanden dafür bezahlen, einen Quilt daraus zu nähen. Die Vorstellung, die Stoffstücke nah bei mir zu haben, gefiel mir - etwas Greifbares,
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