Niemand, Den Du Kennst
sehr schwachen Duft von Grafit. Das Treffen mit McConnell hatte mein Leben auf den Kopf gestellt. Doch auf eine gewisse Art hatte es mir Lila zurückgebracht. Dieser Gegenstand aus ihrem Leben, dieses Protokoll ihrer Tage war ein Fenster, durch das ich einen Blick auf meine Schwester erhaschen konnte, wie sie in ihren besten Zeiten gewesen war, in ihren glücklichsten Zeiten. So lange hatte mir das verschwundene Notizbuch keine Ruhe gelassen. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass das Buch, in das sie ihre großartigsten Ideen hatte strömen lassen, vielleicht auf einer Mülldeponie oder - schlimmer noch - in den Händen ihres Mörders gelandet war. Es jetzt wiederzuhaben erfüllte mich mit enormer Erleichterung. Ich fühlte mich ihr dadurch so nah wie schon seit vielen Jahren nicht mehr.
28
AM FOLGENDEN MORGEN saß Dora nicht an ihrem Platz am Empfang von Golden Gate Coffee. Der Verkostungsraum war ebenfalls leer. Ich zog mir die vorgeschriebene Papiermütze über den Kopf und öffnete die Tür zur Lagerhalle, wo Reggie gerade eine Ladung Bohnen in den Röster füllte. Um den Lärm der Maschine zu übertönen, musste ich brüllen. »Wo sind denn alle?«
Reggie deutete über seine Schulter.
»Was ist los?«
Er grinste und zuckte die Achseln.
Im Aufenthaltsraum standen Jennifer Wilson und der Lagerist Bobby Love mit Mike und Dora zusammen in einem Kreis. Das Grüppchen unterhielt sich angeregt mit jemandem, der mit dem Rücken zu mir stand. »Ellie, sieh mal, wer hier ist!«, rief Dora.
Er drehte sich um und lächelte. Er sah gut aus, wie immer. Jeans, schwarzer Pulli, ausgefallene Stiefel, zerzaustes Haar.
»Hallo«, sagte Henry. »Lange nicht gesehen.«
»Hallo«, erwiderte ich und dann, weil es beim ersten Mal kaum zu hören gewesen war, wiederholte ich zu laut und zu fröhlich: »Hallo!«
Ich stellte mich in den Kreis. Henry umarmte mich herzlich. Ich drückte zurück.
Seit dem Abend vor drei Jahren, als Henry in Guatemala verschwunden war, hatte ich mir viele Male unser Wiedersehen ausgemalt. Aber nie hatte ich es mir so vorgestellt, mit unseren Freunden als Publikum. Nie hatte ich mir ausgemalt, dass ich bei dieser Begegnung eine Jeans und einen unförmigen Pulli tragen würde, ganz zu schweigen von der albernen Papiermütze auf meinem Kopf.
Dora suchte meinen Blick und deutete diskret auf ihr Gebiss, das universale Zeichen für Lippenstift auf den Zähnen. Ich rubbelte ihn mit dem Finger ab.
»Ein kleines Déjà-vu?«, fragte Mike. Alle kannten die Geschichte, wie Henry und ich uns kennengelernt hatten, vor sieben Jahren genau hier in diesem Lager. An dem Tag hatte er sein Vorstellungsgespräch gehabt, und Mike hatte ihn herumgeführt und jedem vorgestellt. Damals wie heute trug ich die Papiermütze. Nicht gerade der erste Eindruck, den ich mir freiwillig aussuchen würde. Nur wenige Augenblicke später war Mike ins Büro gerufen worden. Sobald Henry und ich allein waren, hatte er gesagt: »Die Mütze steht Ihnen wirklich gut. Betont Ihre Grübchen.«
»Wenn Sie das nur sagen, damit ich beim Chef ein gutes Wort für Sie einlege«, antwortete ich, »dann sollte ich Sie wohl warnen. Ich habe hier absolut nichts zu melden.«
»Ist mir egal. Möchten Sie dieses Wochenende mit mir zu Graham Parker in der Great American Music Hall gehen?«
Eigentlich hatte ich schon etwas vor, aber mir war sofort klar, dass ich das absagen würde. Als ich Henry alles im Lager gezeigt hatte, war Mike immer noch nicht zurück, also spazierten wir hinaus in die Sonne.
Ich zog die Mütze ab. »Ohne steht Ihnen sogar noch besser«, sagte Henry.
An jenem Nachmittag teilte ich Mike mit, dass er dumm wäre, wenn er Henry nicht einstellte.
In der Great American Music Hall erzählte mir Henry in einer Pause die Geschichte von Francisco de Melo Palheta, dem portugiesisch-brasilianischen Offizier, der im Jahre 1727 einen Grenzstreit zwischen Französisch- und Holländisch-Guayana schlichten sollte. Zwar wurde Palheta für einen neutralen Dritten gehalten, doch in Wahrheit wollte er unbedingt Guayanas begehrte Kaffeesamen in seinen Besitz bringen, die damals nicht legal exportiert werden durften.
»Also, wie hat er es angestellt?«, fragte ich. Meine Hand lag auf dem Tisch zwischen uns.
»Er hat die Frau des französischen Gouverneurs verführt«, sagte Henry und berührte sanft meine Fingerspitzen mit seinen. »Als er ging, überreichte sie ihm einen Blumenstrauß, in dem sie einige Kaffeekirschen versteckt hatte.
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