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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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hatte bei der Ausschreibung den Zuschlag bekommen, die Auffahrt wieder aufzubauen. Schätzungen hatten die Arbeiten auf sechs Monate veranschlagt, aber Strachman gelang es in dreißig Tagen. Die gesamte Bay Bridge war am Wochenende des Labour Day gesperrt worden, um das Projekt vorzeitig abschließen zu können, und in den Medien wurde viel spekuliert, dass die Brücke unmöglich bereits am Dienstag wiedereröffnet werden könne. Doch
wer sich am Montagabend auf den Heimweg machte, stellte fest, dass die Brücke sogar elf Stunden vor Ablauf der neuen Frist wieder befahrbar war. Dieses Tüpfelchen auf dem i bauunternehmerischen Geschicks war es gewesen, was Strachman zu einer Art lokaler Berühmtheit machte. Sein Bild war auf der Titelseite des Chronicle abgedruckt gewesen, unter der Schlagzeile: »Der tüchtigste Mann San Franciscos«.
    Was hatte die Bucht von San Francisco nur an sich, dass die Leute immer hier hängen blieben? Trotz der enormen Lebenshaltungskosten, des bedrückenden Nebels, der Gewissheit eines bevorstehenden schweren Erdbebens und der überall lauernden Obdachlosigkeit wirkte die Bay Area wie ein überdimensionaler Fliegenfänger. Ich wusste schon gar nicht mehr, wie viele Leute mir im Laufe der Jahre erzählt hatten, dass sie mit der Absicht, ein paar Jahre zu bleiben, in San Francisco angekommen waren, danach aber jahrzehntelang den Absprung nicht schafften. Möchtegern-Rockstars, geniale Mathematiker, verkannte Schriftsteller, alternde Hippies - niemand brachte es offenbar über sich, wieder zu gehen. Vielleicht hatte es etwas mit dem Wasser zu tun, das durch das Hetch-Hetchy-Tal herunterfloss. Vielleicht war es das Klima. Oder das Essen. Oder vielleicht die Musik. Egal was - ich verstand es vollkommen.
     
    An diesem Abend ging ich, nachdem ich mich von Thorpe verabschiedet hatte, nach Hause und fand Strachmans Rätsel in Lilas Notizbuch. Oben auf die Seite hatte sie geschrieben: Hodge-Vermutung , und darunter:
    X sei eine projektive komplexe Mannigfaltigkeit. Dann ist jede Hodge-Klasse auf x eine Linearkombination mit rationalen Koeffizienten der Kohomologieklassen von komplexen Untervarietäten von x.

    Es war unmöglich, ein Problem zu verstehen, dessen grundlegende Termini ich noch nicht einmal begriff. Es war, wie eine unerträglich komplizierte Passage in einer fremden Sprache entziffern zu müssen.
    In jener Nacht las ich jede Seite von Lilas Notizen zur Hodge-Vermutung. Ich schrieb sie ab und las sie erneut. Ich schlug sie im Internet nach, zerlegte sie in ihre Einzelteile, Stück für Stück. Ich entdeckte, dass das Problem noch nicht gelöst war und als so schwierig und wichtig galt, dass eine Prämie von einer Million Dollar auf denjenigen wartete, der die Vermutung beweisen konnte. Ich stieß auf verschiedene Mathematikseiten, die sich der Erklärung mit unterschiedlich hoher Komplexität näherten, und ich studierte jede davon, bis mir alles vor den Augen verschwamm. Die ganze Nacht blieb ich wach. Am Morgen war ich dem Verstehen keinen Schritt nähergekommen. Genauso empfand ich hinsichtlich des Problems von Lilas Ermordung. Ich konnte mich aus jedem vorstellbaren Blickwinkel nähern, konnte jede erdenkliche Möglichkeit untersuchen, mir jede Menge unterschiedliche Geschichten ausdenken. Ich konnte sogar das Blatt auf den Kopf stellen, um eine neue Perspektive zu bekommen, wie Lila es immer tat, wenn sie nicht weiterkam.
    »Fantasie ist wichtiger als Wissen«, hat Einstein gesagt. Dieses Zitat hatte ich neben diversen anderen in winziger Schreibschrift halb versteckt auf den Innenrändern im Knick des Notizbuchs entdeckt. Es war, als hätte Lila diese Weisheiten gesammelt und gehortet - vielleicht zur Anregung an jenen Tagen, wenn ein Problem unüberwindlich schien. Ich nahm an, dass Lilas Genie in ihrer ausgeprägten Fantasie gelegen hatte, ihrer Fähigkeit, sich Dinge vorzustellen, die ihr noch niemand beigebracht hatte, scheinbar ungleichartige Konzepte zusammenzufügen, um daraus etwas Bedeutungsvolles
zu schaffen. Letztendlich hatte ich Angst, dass meine eigene Fantasie der Aufgabe nicht gewachsenen wäre, herauszufinden, was mit Lila passiert war. Das Problem könnte einfach meine Möglichkeiten übersteigen. Dennoch musste ich es probieren. Ich musste weitersuchen, bis ich die Antwort gefunden hatte oder endgültig in einer Sackgasse endete.
    Ich strich mit den Fingern über die Seite, hielt mir das Notizbuch ans Gesicht und atmete den modrigen Geruch des Papiers ein, den

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