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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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erwischt, wie sie die Schublade aufzubrechen versuchte, als sie in seinem Zimmer saubermachte, und er ist völlig ausgerastet.«
    »Er hat noch bei seiner Mutter gewohnt?«
    »O ja.«
    »Wahnsinn«, sagte ich. »Andererseits wohnte auch Lila noch zu Hause, und das kam mir nie seltsam vor.«
    »Stimmt, aber er war ein Mann - das ist etwas anderes. Und er war älter.«
    Patrick Wolf begann zu singen. Er klang gut.
    »Komm, wir gehen raus«, sagte Thorpe. »Es wird mir zu laut hier drin.«
    Auf dem Weg nach draußen begrüßte ich Wolfs Freundin, eine Kindergärtnerin namens Mary, und Peggy und Matt, die Inhaber des Pilates-Studios auf der anderen Straßenseite. Das liebte ich an den Cafés von San Francisco: Man musste nur ausreichend Zeit in einem davon verbringen, und schon kannte man die Gesichter, erfuhr die Lebensgeschichten.
    Die Temperatur war innerhalb der letzten Stunde um mindestens acht Grad gesunken. Der Nebel, der sich am frühen Abend über dem Meer gesammelt hatte, kroch langsam die Straßen hinauf. Wenn die Schwaden so tief über dem Boden hingen wie jetzt, erinnerte mich das an die Nebelwälder von Costa Rica und Peru. Ich zog mir meine Jacke an und setzte mich Thorpe gegenüber an einen kleinen Holztisch. Er beugte sich vor, um einen zotteligen weißen Hund zu streicheln, der an einer Parkuhr festgebunden war.
    »Ist dir kalt, mein Kleiner?« Seine Zärtlichkeit verblüffte mich. Dann blickte er auf, wie um sich zu vergewissern, dass ich ihn auch sah, und mich beschlich der Verdacht, dass seine Freundlichkeit zu dem Hund - genau wie so viele andere Dinge an ihm - in Wirklichkeit ganz bewusst eingesetzt wurde,
um sein Image zu prägen. Wenn er Hunde so gern mochte, weshalb hatte er dann keinen?
    »Noch mal zu Strachman«, sagte ich. »Er war also absonderlich und ehrgeizig. Das trifft auf ziemlich viele Leute zu.«
    »Das stimmt. Aber hör dir das an: Ein paar Tage nach Lilas Tod erkundigte sich Strachman bei einem seiner Professoren nach dem Preis.«
    »Das ist noch kein Verbrechen.«
    Thorpe neigte sich nach vorn. »Seine Formulierung lautete meiner Quelle zufolge: ›Wer kommt als Nächster für den Hilbert-Preis infrage, jetzt, wo die Enderlin nicht mehr im Spiel ist?‹«
    »Und das hieltest du für nicht wichtig genug, um es in dein Buch aufzunehmen?«
    »Ich hatte es drin«, sagte Thorpe. »Meine Lektorin hat es gestrichen. Sie meinte, es wäre zu verwirrend, wenn noch ein anderer Mathematiker aus Stanford aufs Tapet käme. Sie hatte nicht ganz unrecht; ein Leser kann sich nur eine gewisse Anzahl an Figuren merken, danach vermischen sie sich alle miteinander.«
    »Wer war deine Quelle?«
    »Der Professor, dem Strachman die Frage stellte.«
    Laut Thorpe hatte jeder seit Monaten gewusst, dass der Preis entweder an Lila oder an Strachman ginge. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Doch nach dem Erfolg des Aufsatzes, den Lila im November an der Columbia präsentierte, hatten sich die Chancen verschoben; Lila war der Sieg so gut wie sicher. Auch wenn sie es niemals zugegeben hätte, ich wusste, dass Lila sich den Preis so sehr wünschte, dass sie ihn schon beinahe schmecken konnte.
    »Hat Strachman den Preis gewonnen?«
    »Ja.«

    »Und wo ist er jetzt?«
    Ich machte mich innerlich auf den Bericht gefasst: dass er ein weltberühmter Mathematiker war, dass ihm der Hilbert-Preis den Weg zu großartigen Erfolgen gepflastert hatte, dass er die Hodge-Vermutung bewiesen und sich zu einer Art Star der Szene entwickelt hatte. Er wäre jetzt weit über vierzig, würde von den Früchten seiner frühen Errungenschaften leben. Doch ich irrte mich.
    »Er hat die Mathematik vor langer Zeit an den Nagel gehängt. Versuchte sich als Ingenieur, und als das nicht klappte, wurde er Bauunternehmer. Vor gar nicht langer Zeit schaffte er es durch die Reparatur der Auffahrt von Treasure Island auf die Bay Bridge nach diesem Tankwagenunglück in die Nachrichten.«
    »Du machst Witze. Der Strachman ist das?«
    »Genau der.«
    Der Vorfall hatte damals Aufsehen erregt. Ein Tanklaster mit über elfhundert Litern Benzin Ladung hatte mitten in der Nacht eine Sperre durchbrochen und einen Feuerball hoch in den Himmel gesandt. Der Fahrer war dabei ums Leben gekommen, doch was die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit eigentlich erregte, war, dass die viel befahrene Auffahrt zerstört worden war. Mit einem einzigen Unfall hatte ein Tanklaster eine zwanzigminütige Pendlerstrecke in eine dreistündige verwandelt, Minimum. Strachmans Firma

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