Niemand hört dich schreien (German Edition)
sie war nicht so rückwärtsgewandt, dass sie den digitalen Markt ignoriert hätte. Sie hatte einen kleinen Kredit aufgenommen, um in Computer und Software zu investieren und dadurch Porträtaufnahmen rasch fertigstellen zu können. Dass sie sich in beiden Arten der Fotografie auskannte, erhöhte ihre Einnahmen beträchtlich.
Sie setzte sich an den Schreibtisch. Das grüne Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte und zeigte an, dass sie drei Nachrichten hatte.
Nicole drückte auf die Abspieltaste. Die erste Nachricht war von einer Frau, mit der sie letzte Woche einen Termin gehabt hatte, um ihre Hochzeit zu besprechen. »Nicole, hier ist Callie. Wir haben den Termin auf den vierundzwanzigsten Dezember gelegt. Es wäre toll, wenn Sie die Fotos machen könnten. Rufen Sie mich bitte an. Meine Nummer ist …«
Die Hochzeit war ein großer Auftrag. Sehr schön. Dezember. Bis dahin würde das Baby fast elf Monate alt sein. Nicole versuchte sich vorzustellen, wie ihr Kind dann aussehen würde, doch es gelang ihr nicht.
Sie spielte die zweite Nachricht ab. Es ging um das Verlobungsfoto eines jungen Paares. Die beiden hatten gemeinsam den Mount Everest bestiegen und wollten ein ganz besonderes Foto, das ihrem abenteuerlichen Leben gerecht wurde. Prima.
Und dann die dritte Nachricht. »Nicole, ich habe Sie heute gesehen. Sie sahen wunderschön aus. So strahlend. Hoffentlich ist mit dem Baby alles okay.«
Etwas an der Stimme des Mannes beunruhigte sie. Wer war das? Sie spielte die Nachricht noch einmal ab, weil sie dachte, sie hätte seinen Namen überhört. Aber das stimmte nicht. Er hatte gar keinen Namen genannt. Wieder spielte sie die Nachricht ab und versuchte diesmal, die Stimme zu erkennen. Doch sie kam nicht darauf, um wen es sich handelte.
Ich habe Sie heute gesehen …
Wo hatte er sie gesehen? Sie war von zu Hause direkt zum Atelier gefahren.
Ich habe Sie heute gesehen …
Sie schaute zu den großen Fenstern hinüber. Wer zum Teufel hatte sie beobachtet?
4
Dienstag, 8. Januar, 16:10 Uhr
Jacob ließ den Schlüsselbund auf seinen Schreibtisch fallen. Sein Büro maß drei mal drei Meter und war mit Behördenmobiliar und ein paar Regalen voller Handbücher eingerichtet. Keine Bilder an der Wand, kein Schnickschnack auf dem Schreibtisch.
Abgesehen von den Akten, die sich in seinem Eingangskorb stapelten, sah das Büro noch genauso aus wie an dem Tag vor zwei Jahren, als er es bezogen hatte.
Er hätte es jederzeit aufgeben können, von einem Moment auf den anderen, in dem Bewusstsein, nichts weiter zurückzulassen. Das war seine Art zu leben. Er war immer auf dem Sprung, immer bereit, wegzugehen, wenn es erforderlich sein sollte. Er kannte sich gut genug in Psychologie aus, um zu wissen, dass diese Eigenart aus seiner Kindheit herrührte. Seine Mutter war eine Trinkerin gewesen, noch dazu drogensüchtig, und sie waren oft umgezogen, weil seine Mutter immer zu wenig Geld für die Miete hatte. Mit zwölf war er zu seinem Pflegevater gekommen und dort geblieben, doch das Muster hatte sich bereits für immer eingebrannt.
Jacob öffnete die unterste Schublade seines Schreibtischs und nahm einen Eiweißdrink heraus. Er schnipste ihn auf und trank ihn leer. Nicht sehr befriedigend, doch die kleine Mahlzeit würde ihn über die nächsten beiden Stunden bringen und war weitaus gesünder als der Burger, dem er sonst auf dem Rückweg vom Tatort nicht hätte widerstehen können.
Sein Handy klingelte. Er nahm es aus der Gürteltasche. »Warwick.«
»Hier ist Tess. Ich bin im Leichenschauhaus. Die Unbekannte ist hier angekommen und liegt jetzt in einem Kühlfach.«
»Gut.«
»Außerdem habe ich ihre Kleider mitgenommen und eingetütet.«
»Ist dir irgendwas aufgefallen?«
»Bis jetzt nicht. Aber ich fahre gerade zurück zum Labor, um die Sachen zu untersuchen.« Sie klang müde.
»Gut. Was ist mit dem Pathologen? Nimmt er sie sich heute noch vor?«
»Wahrscheinlich nicht. Er ist im Rückstand. Zwei seiner Ärzte sind wegen Grippe oder so krankgeschrieben. Aber er meint, er kann die Autopsie morgen früh durchführen.«
Ungeduld schlich sich in Jacobs Stimme. »Er ruft mich doch an, wenn er fertig ist?«
»Er hat seine Anweisungen.«
Jacobs Stuhl knarrte, als er sich zurücklehnte. »Was ist mit den Fingerabdrücken?«
»Ich habe sie ihr abgenommen und jage sie durchs AFIS , wenn ich wieder im Büro bin.« AFIS war das Automatisierte Fingerabdruck-Identifizierungssystem, eine Datenbank, in der buchstäblich
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