Niemand hört dich schreien (German Edition)
war.
Jacob läutete. Sofort hörten sie Fußgetrappel und das Geschrei kleiner Kinder, dann die sich nähernde Stimme einer Frau. Die gläserne Sturmtür zitterte, als sich die massive Holztür dahinter öffnete. Im Eingang stand eine junge Frau mit einem Kleinkind auf der Hüfte. An ihre Beine klammerte sich ein kleiner Junge, der etwa vier Jahre alt war.
Der ältere Junge hatte ein Badetuch wie einen Superman-Umhang um den Hals gebunden, die Arme des Kleinen waren über und über mit grünem Leuchtmarker bekritzelt. Ihre Haare hatte die Frau achtlos zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war ungeschminkt und trug ein fleckiges T-Shirt der Technischen Universität Virginia, dazu eine Jogginghose.
Jacob zog seine Polizeimarke aus der Gesäßtasche. Zack tat es ihm gleich. »Ms Betty Smith?«, fragte Jacob.
»Ja.«
»Ma’am, wir kommen von der Henrico-County-Polizei.«
Die Augen des Vierjährigen wurden groß, und er steckte den Daumen in den Mund. Er ließ die beiden Cops nicht aus den Augen, klammerte sich jedoch weiterhin an die Beine seiner Mutter.
Die Frau war zurückhaltender. Sie runzelte die Stirn und machte keinerlei Anstalten, die Glastür zu öffnen. »Kommen Sie wegen Jackie?«
»Ja.«
»Haben Sie sie gefunden?«
Jacob vermied es zu antworten. »Können Sie mir sagen, wieso Sie sie als vermisst gemeldet haben?«
Betty Smith entriegelte die Sturmtür und stieß sie mit dem Fuß auf. Augenblicklich drang ihnen warme, nach Hamburgern und Pommes frites riechende Luft entgegen.
»Kommen Sie herein«, sagte sie.
Sie betraten das Haus. Direkt hinter dem Eingang befand sich das Familien- und Wohnzimmer. Ein dicker, grauer Teppich wärmte den Fußboden, und an der Wand drängten sich ein schweres blaues Sofa und eine Recamiere. Der Tisch war übersät mit Buntstiften und Ausmalbüchern. In einer Ecke stand ein Fernseher, in dem gerade ein Zeichentrickfilm lief. Hinter dem Wohnzimmer befand sich eine kleine Küche, wo etwas in einem Topf köchelte.
»Ich habe Jackie seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Die Kinder waren erkältet, und wir sind nicht viel rausgekommen. Aber gestern hatte ich von einer Geburtstagsfeier ein bisschen Kuchen übrig und dachte, sie würde vielleicht gerne etwas davon haben. Sie isst sehr gern Kuchen.« Betty lächelte, als würde ihr bewusst, dass sie abschweifte. »Ich habe die ganzen Zeitungen gesehen. Jackie sagt mir immer, wenn sie länger wegfährt.«
»Vielleicht ist sie ja spontan weggefahren«, meinte Jacob.
»Jackie plant alles im Voraus. Sie hat einen richtigen Fimmel, was das betrifft. Wäscht jeden Samstag ihr Auto. Es sieht ihr überhaupt nicht ähnlich, einfach so wegzufahren.«
Jacob zog seinen Notizblock heraus und bemerkte, dass die Kinder ihn aus großen Augen anstarrten. Er deutete ein Nicken an, unsicher, was man bei so kleinen Kindern sagte oder tat. »Wie lange ist Ms White schon Ihre Nachbarin?«
»Weniger als ein Jahr. Sie ist letzten Sommer nach der Trennung von ihrem Mann hergezogen.«
»War es eine friedliche Trennung?«, fragte Zack.
Betty zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. »Ich glaube nicht. Ihr Ex kam kurz vor Weihnachten vorbei. Sie müssen Streit gehabt haben, er fuhr nämlich in einem ziemlichen Tempo weg. Ich weiß das, weil die Jungen und ich gerade im Vorgarten waren und Lichterketten aufgehängt haben. Ehrlich gesagt musste ich an diesen Krach denken, als ich die Zeitungen da liegen sah.«
»Wissen Sie, wie der Ehemann heißt?«, fragte Jacob.
Sie überlegte kurz. »Phil White, glaube ich.« Der Kleine begann zu zappeln, und sie setzte ihn auf den Boden. Daraufhin quengelte er nur noch lauter, also nahm sie ihn wieder hoch und warf einen Blick zum Herd hinüber. »Ist alles in Ordnung mit Jackie?«
»Das versuchen wir gerade herauszufinden«, erwiderte Jacob. »Haben Sie ein Foto von ihr?«
»Ja.« Sie ging in die Küche, stellte den Herd aus und zog den Topf mit Nudeln von der Platte, dann drehte sie sich zum Kühlschrank um, der mit Dutzenden Schnappschüssen, Zeichnungen und Zetteln übersät war. Das Spielzeug, der brodelnde Topf und das allgemeine Chaos verbreiteten einen heimeligen Charme, der auf Jacob gleichermaßen abschreckend und anziehend wirkte.
Betty sah sich eine Reihe von Fotos an, die von einem Magnetclip zusammengehalten wurden. »Das hier wurde an Halloween aufgenommen. Ich habe ein Foto von den Kindern und Jackie gemacht. Auf unserer ›Süßes oder Saures‹-Runde haben wir als Erstes bei ihr
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