Niemand hört dich schreien (German Edition)
und Kendall ging rasch auf Warwick zu. Er blieb stehen und überließ es ihr, zu ihm aufzuschließen.
»Detective, können Sie uns sagen, wer ermordet worden ist?«, fragte Kendall.
Warwick schaute kurz zu Mike und konzentrierte sich dann auf Kendall. »Wie sind Sie hierher gekommen? Die Straße ist abgesperrt.«
»Wenn man einen halben Kilometer weiterfährt, ist da noch ein Weg. Wir sind gelaufen.«
Er drehte sich zu den uniformierten Beamten um. Sein Stirnrunzeln verriet deutlich seine Verärgerung.
»Können Sie uns sagen, wer gestorben ist?«, wiederholte Kendall.
Warwick wandte sich wieder ihr zu. »Diese Information können wir noch nicht weitergeben.«
So nah bei ihm fiel ihr wieder auf, wie groß er war. »Ist das Opfer ein Mann oder eine Frau?«
»Kein Kommentar.«
»Wie alt ist sie?« Es war ein Schuss ins Blaue. Sie wollte sehen, wie er auf das weibliche Fürwort reagierte.
Warwicks Gesichtsausdruck verriet rein gar nichts. »Wir geben in Kürze eine Pressemeldung heraus.«
»Können Sie uns sagen, wie sie gestorben ist?«
»Kein Kommentar.«
»War es Selbstmord?«
»Zeit zu gehen, Ms Shaw.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung der Uniformierten. »Gehen Sie, sonst lasse ich Sie wegbringen.«
»Handelt es sich um ein Sexualverbrechen?«, fragte Kendall. Hinter sich hörte sie Schritte. Sie wusste, gleich würde man sie zur Hauptstraße zurückbegleiten.
Warwick machte ein abweisendes Gesicht. Er drehte sich um und begann, sich zu entfernen.
Kendall folgte ihm auf dem Fuß. »Welche Haarfarbe hat sie? Ist sie groß oder klein?«
Er ging weiter, ohne Kendall auch nur im Geringsten zu beachten. Von Warwick Informationen zu bekommen, glich dem Versuch, Wasser aus einem Stein zu quetschen.
Zwei Beamte blieben dicht vor ihr stehen. »Ma’am, Sie müssen jetzt zur Hauptstraße zurück.«
Kendall hatte den Blick immer noch auf Warwick geheftet, der nun mit einem älteren Beamten in Uniform sprach. Sie konnte nicht verstehen, was er sagte, doch er deutete stirnrunzelnd in ihre Richtung.
»Jetzt, Ma’am«, sagte der Beamte.
»Ich gehe gleich«, sagte sie, machte aber keine Anstalten, aufzubrechen.
» Jetzt «, befahl der Beamte.
Kendall wusste, wann der Zeitpunkt zum Rückzug gekommen war. »Gehen wir, Mike.« Die erste Runde ging an Warwick.
Mike nahm die Kamera herunter, aber sie sah, dass das grüne Licht, das die Aufnahme signalisierte, weiterhin leuchtete. Sie gingen über die unbefestigte Straße zurück.
Grinsend schüttelte Mike den Kopf. »Warwick sah aus, als hätte er am liebsten Feuer gespuckt.«
Kendall feixte. »Unsinn. Eigentlich hält er große Stücke auf mich.«
Warwick gewöhnte sich mal besser an sie, denn sie war noch lange nicht fertig mit dieser Story.
Nicoles Bauch fühlte sich bleischwer an, und alles tat ihr weh, als sie die mit Teppichboden ausgelegten Stufen erklomm. Ihr Fotoatelier befand sich im ersten Stock eines mehr als hundert Jahre alten Gebäudes, mitten in Carytown, einem historischen Geschäftsviertel.
Das Baby versetzte ihr einen Tritt in die Rippen. Die Kleine war sehr aktiv. Wenn sie mal groß war, würde sie wahrscheinlich Fußballspielerin werden.
Wenn sie mal groß war. Es war unsinnig, darüber nachzugrübeln, was das Mädchen einmal werden würde, wenn Nicole sie doch gar nicht aufziehen würde.
Das Baby trat sie, als wüsste sie, woran ihre Mutter gerade dachte. »Genug, Kleine. Das reicht.«
Jedes Mal, wenn sich das Kind in ihr bewegte, musste sie an ihren verstorbenen Mann denken. Er war wahnsinnig gewesen, geradezu ein Monster.
Und nun bekam sie sein Kind.
Was, wenn das Baby so wurde wie sein Vater? Und würde sie ein Kind wirklich lieben können, das im Zorn und mit Gewalt gezeugt worden war? Was, wenn sie das Kind schließlich hasste und ihm das Leben zur Hölle machte?
Diese Fragen belasteten Nicole nun seit Monaten. Sie hielten sie nachts wach und raubten ihr Appetit und Lebensfreude.
Sie stieg weiter die Treppe hinauf. Ihr Atem ging schwer bei jedem Schritt.
Letzten Sommer hatte sie während eines Einkaufsbummels das Schild mit der Aufschrift»Zu vermieten« entdeckt und sich die Räumlichkeiten aus einer Laune heraus angeschaut. Damals war ihr die Miete von siebenhundert Dollar im Monat unerschwinglich erschienen. Zu jener Zeit hatte sie sich vor Richard versteckt und über fast kein eigenes Geld verfügt.
Den Augenblick, in dem sie sich eingestand, dass sie sich die Miete nicht leisten konnte, hatte sie als beschämend
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