Niemand hört dich schreien (German Edition)
sich angeschickt, ihr die Hand abzutrennen. Unter Tränen hatte sie nur noch »Bitte nicht« flehen können.
Ohne ein weiteres Wort hatte der Hüter ihre Hand verschont, sie in dem winzigen Kellerraum eingeschlossen und allein zurückgelassen, sodass sie beinahe verblutet wäre.
Selbst jetzt noch erinnerte sie sich lebhaft daran, wie sich der kalte Zementboden an ihrem Rücken angefühlt hatte. Sie hatte versucht aufzustehen, doch bei jeder Bewegung waren die höllischen Schmerzen schlimmer geworden. Sie hatte geschrien, bis ihre Kehle wie Feuer brannte. Aber niemand war gekommen.
Aus ihrer Wunde war Blut gesickert, und bald hatte sie auch keine Kraft mehr gehabt, um aufzustehen. Ihre Arme und Beine waren kalt geworden, während langsam das Leben aus ihr wich.
In der Dunkelheit war nichts zu hören gewesen als das Geräusch eines tropfenden Rohres und das Getrippel der Ratten. Die Zeit hatte jede Bedeutung verloren, und sie war ohnmächtig geworden.
Und dann war die Tür aufgegangen, und Lichtschein hatte sie geblendet. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, der Hüter sei zurückgekehrt. Sie hatte die gesunde Hand zur Faust geballt und um die Kraft zum Kämpfen gebetet.
Warwicks Gesicht war über ihr aufgetaucht, sein Erschrecken so greifbar wie ihr eigenes. Sanft hatten seine großen Hände ihr Gesicht berührt. »Herr im Himmel, es ist Kendall Shaw. Kier, rufen Sie einen Rettungswagen.«
»Er hat versucht, mich umzubringen«, hatte sie geflüstert. »Er wollte meine Hand abschlagen.«
Augenblicklich hatte Warwick ihre Arme und Hände abgetastet. »Sie haben die Hand noch.«
Die Kräfte, die sie zuvor zum Kämpfen gesammelt hatte, verließen sie. Sie nickte und schloss die Augen. Eisige Kälte umfing sie und ließ den Schlaf ungeheuer verlockend erscheinen.
»Kendall!« Warwicks scharfe Stimme hatte den Nebel durchdrungen.
Mühsam hatte sie die Augen aufgeschlagen. In seinem Blick mischten sich Strenge und Angst. Sie hatte sich die Lippen befeuchtet, doch es schien unmöglich, bei Bewusstsein zu bleiben. Gott, sie war so müde gewesen. Die Augen waren ihr zugefallen.
»Augen auf«, hatte er befohlen. »Es kommt gleich Hilfe. Halten Sie durch.«
Durchhalten. Es hatte so schwer geklungen. Loslassen wäre so einfach gewesen.
»Hören Sie auf mich! Sie sind doch eine Kämpferin.«
»Bin ich nicht.« Sie hatte so viel gekämpft, gegen die Krankheit ihrer Mutter und die Geheimniskrämerei – auf einmal war sie des Kämpfens müde.
»Hör zu, du Miststück«, hatte er ihr ins Ohr gezischt. »Mach die Augen auf, verdammt noch mal.«
Mit dem Miststück hatte er ihre Aufmerksamkeit zurückerlangt. Sie hatte die Augen geöffnet und heißen, brennenden Zorn verspürt. »Arschloch«, hatte sie geflüstert.
In seinen Augen war Zufriedenheit aufgeflackert. »Gut so.«
Sekunden später waren die Sanitäter gekommen. Sie hatten Kendall in Windeseile ins Krankenhaus gebracht, und man hatte sie beinahe sofort operiert. Seitdem hatte sie Warwick nicht mehr gesehen.
Als Kendall ihm nun gegenüberstand, empfand sie so etwas wie Scham. In jenem Keller hatte er mitbekommen, wie ihre sorgfältig aufrechterhaltene Fassade bröckelte. Er hatte ihr Entsetzen gesehen, gesehen, wie sie aufgab.
Bei allen anderen konnte sie die knallharte Starreporterin spielen, doch Warwick war Zeuge, wie sie zusammengebrochen war. Vor Verlegenheit straffte sie die Schultern, bis sie sich kerzengerade hielt. Niemand würde sie jemals wieder so schwach sehen, schon gar nicht Warwick.
Als hätte er ihre Anwesenheit gespürt, drehte Warwick sich um. Ihre Blicke trafen sich. Die Szenerie um sie herum verschwamm, und Kendall nahm nur noch diese durchdringenden grauen Augen wahr. Für einen kurzen Augenblick meinte sie, Bedauern in ihnen zu sehen. Genauso schnell war es jedoch wieder verschwunden.
Warwicks Blick wanderte von Kendall zu Mike, der die Szene filmte. Der Detective näherte sich mit schnellen Schritten dem Absperrband, tauchte darunter hindurch und kam auf sie zu. Er sah nicht besonders glücklich aus. Sie hatte sich an seinen Tatort geschlichen und würde nun seinen Zorn ausbaden müssen.
Kendall war Warwicks Ärger lieber als sein Bedauern, damit konnte sie umgehen. Sie wandte sich an Mike. »Richte die Kamera direkt auf ihn, und wenn er uns hinauswirft, nimm sie runter, aber lass sie an. Wer weiß, was uns noch über den Weg läuft.«
»Das ist die Kendall, die wir alle kennen und lieben.« Mike schwenkte seine Kamera herum,
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