Niemand hört dich schreien (German Edition)
Vergleich zu deiner so dunkel.«
Irene starrte stirnrunzelnd in ihre Tasse. Dann vollzog sie eine Kehrtwendung und lächelte. »Weißt du, was wir morgen früh gleich tun sollten? Einkaufen gehen. Ich habe ein wunderhübsches Kleid gesehen, das an dir perfekt aussehen würde.«
Ihre Mutter wusste, welche Knöpfe sie drücken musste. Anders als sie selbst liebte ihre Tochter schöne Kleider und Schuhe. Ein Einkaufsbummel lenkte Kendall immer ab. Trotzdem, diesmal entging Kendall das wenig subtile Ausweichmanöver nicht. Ohne dass weitere Worte nötig waren, begriff sie, dass sie keine Antworten bekommen würde, und wechselte das Thema.
Später ging sie zu ihrem Vater und fragte ihn nach der Adoption. »Du weißt doch, dass dieses Gerede deine Mutter aufregt.«
»Aber wieso sprechen wir nie darüber? Stimmt etwas nicht mit mir? War meine leibliche Mutter ein Monster aus dem Weltall?«
In seinem Blick lag Zärtlichkeit, als er ihr die Hand auf die Schulter legte. »Du bist genau richtig, und glaub ja niemals etwas anderes. Mom und ich lieben dich, und sonst brauchst du dir über nichts Gedanken zu machen.«
Ihr Vater war jetzt seit zehn Jahren tot, und ihre Mutter war vor einem Jahr gestorben. Es war niemand mehr da, der verletzt oder enttäuscht werden konnte.
Dennoch hatte Kendall nicht begonnen, nach ihren leiblichen Eltern zu suchen, und sie hatte niemandem, nicht einmal Nicole, erzählt, dass sie adoptiert war.
Die Fragen nach ihrer leiblichen Mutter hatten ihr niemals Ruhe gelassen. Doch selbst als Erwachsene fühlte sie sich illoyal und bekam Angst, wenn sie nach ihrer biologischen Familie forschte.
Kendall fuhr mit dem Finger über den Rand der Tasse und trank einen Schluck Tee. Sie verdiente ihren Lebensunterhalt damit, Fragen zu stellen, im Leben anderer zu wühlen, und aus den Antworten etwas zu machen, was die Leute interessierte. Aber die grundlegendsten Fragen über ihre eigene Vergangenheit vermochte sie nicht zu stellen. Wo kam sie her? Wo hatte sie während ihrer ersten drei Lebensjahre gelebt?
Kendall rieb sich die brennenden Augen. All das lastete plötzlich so schwer auf ihren Schultern. »Schlafen. Ich muss unbedingt schlafen.«
Bisher hatte sie die dunklen Ringe unter ihren Augen mit Make-up abdecken können. Doch schon bald würden ihre schlaflosen Nächte den Fernsehkameras nicht mehr verborgen bleiben, egal wie dick die Foundationschicht war, die sie auftrug.
Kendall stand auf und ging zur Spüle. Sie goss den Tee in den Ausguss, spülte die Tasse aus und stellte sie auf die Ablage.
»Das ist lächerlich. Es spielt keine Rolle, wo ich herkomme. Ich hatte tolle Eltern, und ich habe ein tolles Leben. Die Vergangenheit ist völlig egal.«
Doch tief in ihrem Inneren fühlte sie, dass das nicht stimmte.
5
Donnerstag, 10. Januar, 10:12 Uhr
Die letzten achtundvierzig Stunden waren frustrierend gewesen. Jacob und Zack hatten Phil Whites Haus ausfindig gemacht, ihn aber nicht angetroffen. Die Nachbarn gaben an, sie hätten ihn seit Freitagvormittag nicht mehr gesehen. Von seinem Chef bei der Kabelgesellschaft hatten Jacob und Zack erfahren, dass er Urlaub hatte, aber niemand schien zu wissen, wo er war und wie man ihn erreichen konnte.
Die Befragung von Jackie Whites Kirchenfreunden und -kollegen hatte sich als ebenso fruchtlos erwiesen. Jackie war eine extrem zurückhaltende Frau gewesen, und obwohl offenbar alle sie gemocht hatten, wusste niemand sonderlich viel über sie. Ihre Telefongespräche und die Bankauszüge und Kreditkartenabrechnungen hatten nichts Außergewöhnliches zutage gefördert.
Am Vormittag war Jacob von der Pathologie angerufen worden. Jackie White sollte heute obduziert werden.
Als Jacob und Zack das rechtsmedizinische Institut betraten, merkte Jacob, wie er sich innerlich anspannte. Der Tod gehörte zu seinem Beruf, aber die Pathologie mochte er nicht. Den gekachelten Fußboden. Das Chrom. Den Geruch. Dieser Ort hatte etwas Unheimliches, an das er sich nie gewöhnen würde.
»Gott, ich hasse den Geruch hier«, murmelte Zack.
Jacob atmete durch den Mund ein. »Geht mir genauso.«
Die beiden Detectives betraten den Autopsieraum. In der Mitte des gekachelten Bodens befand sich ein Abfluss. Schwenkbare Lampen hingen über den fünf verchromten Untersuchungstischen, die alle leer waren – bis auf einen, an dem Dr. Alex Butler stand.
Dr. Butler war jung, kaum älter als dreißig. Er war groß, schlank und hatte dichtes blondes Haar, das er sehr kurz trug. In
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