Niemand hört dich schreien (German Edition)
seinen blauen Augen spiegelte sich Intelligenz. Er hatte das Medizinstudium mit zwanzig Jahren abgeschlossen, und manche nannten ihn Doogie Howser, nach dem blutjungen Krankenhausarzt aus der Fernsehserie. Dr. Butler hatte mehrere Jahre in Hawaii für die Regierung gearbeitet und dazu beigetragen, die sterblichen Überreste amerikanischer Soldaten zu identifizieren. Inzwischen war er ein weltweit anerkannter Experte und hätte überall arbeiten können.
Dr. Butler drehte sich um und blickte entschuldigend auf seine behandschuhten Hände. »Detective Warwick, Detective Kier. Ich würde Ihnen ja die Hand geben, aber …«
»Kein Problem, Doktor Butler«, sagte Jacob. Es fühlte sich komisch an, Doktor zu dem Burschen zu sagen. Er sah aus, als wäre er nicht einmal alt genug zum Autofahren. »Was haben Sie?«
»Gut, dass Sie gekommen sind, bevor ich hier fertig bin.« Dr. Butler trat beiseite, und Jackie Whites nackter Körper wurde sichtbar. Ihr Brustkorb war mit dem typischen Y-Schnitt geöffnet, ihre lebenswichtigen Organe entfernt worden und ihre Haare aus dem Gesicht gekämmt.
Zack stieß hörbar die Luft aus.
Jacob biss die Zähne aufeinander, fest entschlossen, in der Leiche nichts weiter als ein Beweismittel zu sehen.
Dr. Butler, der neben der Toten stand, wirkte völlig ungerührt. Für ihn war dies Alltag.
»Was können Sie uns sagen?« Jacobs Stimme klang wie eingerostet. Er brannte jetzt schon darauf, hier herauszukommen.
»Die Todesursache war Erdrosseln.« Er nahm den Kopf der Toten, drehte das Gesicht von ihnen weg und entblößte dabei ihren bleichen Hals, der auf beiden Seiten Würgemale aufwies. »Wie man an den Malen erkennen kann, hat er beide Hände benutzt. Außerdem ist das Zungenbein gebrochen, wie es bei Erhängen und Erdrosseln normal ist. Wenn der Knochen bricht, setzt das Ersticken ein.«
In Jacob wuchs die Ungeduld. Dr. Butler führte nur das aus, was sie ohnehin schon vermutet hatten. »Was ist an diesem Fall besonders?«
»Der Mörder muss sehr stark sein. Ihr Kehlkopf wurde beinahe zerquetscht. Und es sieht so aus, als hätte er sie von hinten erwürgt. Sehen Sie die Fingerabdrücke? Sie zeigen nach vorn.«
Dr. Butler wandte sich den zerschundenen Handgelenken der Leiche zu und hob ihren Arm an. »Diese Scheuerspuren sind im Laufe von mehreren Tagen entstanden. Sie hat versucht, sich zu befreien. Es sind auch Scheuermale an ihren Fußgelenken und am unteren Ende der Wirbelsäule zu sehen.«
»An der Wirbelsäule?«, fragte Jacob.
Dr. Butler stemmte die Hände in die Hüften. »Ich vermute, dass der Mörder sie an einen Stuhl mit gerader Rückenlehne und stabilen Armlehnen gefesselt hat. Nach ein paar Tagen hat die harte Stuhllehne die Haut an ihrem Rücken aufgescheuert. Beachten Sie auch die Totenflecke – diese purpurvioletten Male.« Wenn der Tod eintrat, sammelte sich das Blut an der tiefsten Stelle des Körpers. »Die Flecke sind an den Füßen, an der Unterseite ihrer Unterarme und an ihrem Gesäß entstanden, was nahelegt, dass sie nach ihrem Tod noch gesessen hat.«
»Totenflecke treten erst nach mindestens dreißig Minuten auf«, warf Jacob ein.
Dr. Butler nickte. »Aber ihre sind so dunkel, dass ich glaube, der Mörder hat sie noch mindestens drei bis vier Stunden auf dem Stuhl sitzen lassen.«
Der Mörder hatte die Leiche bei sich behalten. Warum? »Wann, denken Sie, ist sie gestorben?«, fragte Jacob.
»Ihre Lebertemperatur betrug vier Grad Celsius. Das ist ein Abfall von dreiunddreißig Grad. Angenommen, die Temperatur ist pro Stunde etwas weniger als ein Grad gesunken, und draußen war es konstant um die null Grad, würde ich sagen, sie war seit ungefähr vierzig Stunden tot.«
»Der Tod trat etwa am Sonntagabend um sechs Uhr ein?«, fragte Zack.
Dr. Butler nickte. »Mehr oder weniger.«
Jacob überflog seine Aufzeichnungen. Der Zeitablauf, den er bisher rekonstruiert hatte, passte nicht zu dem, was Dr. Butler ihm erzählte. »Wir sind gestern bei der Arbeitsstelle des Opfers gewesen. Ihr Vorgesetzter sagte, White habe ihm am Sonntagvormittag eine E-Mail geschickt, in der sie schrieb, sie wolle den Montag freinehmen.«
Dr. Butler schüttelte den Kopf. »Das passt nicht zu meinen Ergebnissen. Wenn ich mich festlegen müsste, würde ich sagen, sie war seit Samstag gefesselt.«
»Dann hat also der Mörder die Mail geschickt?«, mutmaßte Zack.
»Könnte sein«, meinte Jacob.
»Anzeichen für ein Sexualverbrechen?«, fragte Zack.
Dr. Butler schüttelte
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