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Niemand hört dich schreien (German Edition)

Niemand hört dich schreien (German Edition)

Titel: Niemand hört dich schreien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Burton
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Linoleumboden, die zerkratzte Arbeitsplatte und die in die Jahre gekommenen Elektrogeräte in ein bleiches Licht tauchte.
    Kendall nahm den weißen Wasserkessel vom Herd. An der Spüle drehte sie den Wasserhahn auf, wartete, bis ein schwaches Rinnsal aus den alten Rohren tröpfelte, und füllte dann den Kessel. »Der Handwerker kann gar nicht früh genug kommen«, murmelte sie.
    Sie stellte den Kessel auf den Herd zurück und schaltete die vordere Platte ein – die einzige von den vieren, die noch funktionierte. Dann hängte sie einen Beutel Kamillentee in eine Porzellantasse und wartete fingertrommelnd darauf, dass das Wasser kochte.
    Durch das Küchenfenster über der Spüle starrte Kendall hinaus in den Garten, auf den Schotterweg und noch weiter bis zu dem dunklen Haus hinter ihrem. Die letzten paar Monate hatte es leer gestanden. Der geschwächte Immobilienmarkt und der kalte Winter waren den Hausverkäufen nicht eben zuträglich gewesen. Es würde schön sein, wenn endlich jemand einzog.
    Der Wasserkessel pfiff und riss sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich zum Herd um und goss heißes Wasser in die Tasse.
    Dann setzte sie sich an den Küchentisch und blies in den dampfenden Tee. Der abgenutzte Tisch aus Walnussholz hatte ihrer Mutter gehört. Er passte nicht zum Design der neuen Küche, doch sie hatte vor, ihn trotzdem zu behalten. Nicht in der Küche, sondern anderswo im Haus.
    Als sie ein Kind gewesen war, hatte es Nächte gegeben, in denen sie schlecht schlief. Dann war sie immer ins Schlafzimmer ihrer Eltern gegangen, und ihre Mutter war sofort aufgewacht. Ihr Vater murrte und fragte sie, was los sei. Ihre Mutter sagte dann jedes Mal, er solle weiterschlafen. Danach gingen Kendall und sie in die Küche und tranken zusammen Tee. Mit elf oder zwölf Jahren hatte es sich mächtig erwachsen angefühlt, mit ihrer Mutter Tee zu trinken.
    Das waren mit die besten Momente mit ihrer Mutter gewesen. Wenn sie so in der Nacht zusammensaßen, redeten sie über die Jungs in der Schule und klatschten über die Nachbarn. In diesen Augenblicken fühlte Kendall sich am sichersten und wagte es, auch heikle Themen anzuschneiden.
    »Ich kann meine Haare nicht leiden«, jammerte die zwölfjährige Kendall.
    Irene stellte ihre Tasse mit heißem Tee ab. Sie lächelte, ihre braunen Augen wirkten gelassen. Sie hatten diese Unterhaltung schon früher geführt, und Irene wusste inzwischen, dass keine Antwort Kendall zufriedenstellen würde. »Ich mag dein Haar.«
    Kendall stöhnte und schaute auf ihren Tee, in den sie reichlich Milch und Zucker getan hatte. »Das sagst du immer.«
    Irene nippte an ihrem Tee. »Aber dein Haar ist wunderbar. Ein schönes Dunkelbraun, dick, voll. In deinem Alter hätte ich alles für solche Haare gegeben.«
    »Ich mag deine Haare. Blond gefällt mir besser.« Im Grunde waren Haarfarben Kendall egal. Was sie wortlos versuchte zu fragen, war: Wem sehe ich ähnlich? Wo komme ich her? Warum hat man mich zur Adoption freigegeben, als ich drei war?
    »Man will immer das, was man nicht hat.« Irene lächelte steif; sie wusste sofort, worauf dies hinauslief. Sie mochte das Thema nicht und mied es nach Möglichkeit.
    Im letzten Jahr hatte Kendall sich regelrecht auf die Unterschiede zwischen ihnen eingeschossen. Ihre Mutter war klein, hellhäutig, blond und nahm schon zu, wenn sie Essen nur anschaute. Kendall war bereits mit zwölf Jahren größer als ihre Mutter. Ihre Haut war olivfarben, nicht hell, und ihrem langen, schlaksigen Körper sah man an, dass sie noch ein gutes Stück Wachstum vor sich hatte. Ihre Eltern liebten Puzzle und Bücher, Kendall verlangte es ständig nach Bewegung.
    Diese augenfälligen Unterschiede waren nicht das Einzige, was an die Adoption erinnerte, über die nie gesprochen wurde. Die »Kendall-Galerie«, wie ihr Vater scherzhaft die unzähligen gerahmten Fotos in ihrem Haus nannte, dokumentierten Kendalls sämtliche Großtaten: Tanzaufführungen, Besuche beim Weihnachtsmann, sogar Ostereiersuchen. Aber alle Fotos waren erst nach Kendalls drittem Geburtstag aufgenommen worden. Als einmal eine Nachbarin wegen der fehlenden Babyfotos Fragen stellte, hatte Irene Shaw gelogen und den Umstand auf einen Brand geschoben, bei dem alle Fotos zerstört worden seien.
    »Ich wünschte, ich sähe mehr aus wie du«, sagte Kendall in dem Versuch, eine andere Taktik einzuschlagen.
    Irene stellte ihre Tasse ab. »Gütiger Himmel, wieso denn? Du siehst wunderbar aus.«
    »Ja, aber meine Haut ist im

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