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Niemand hört dich schreien (German Edition)

Niemand hört dich schreien (German Edition)

Titel: Niemand hört dich schreien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Burton
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denen sie gearbeitet hatte, und die Unterlagen ihrer Mutter. Es gab sechs dieser Kartons, die alle zusammen in der hintersten Ecke standen.
    Kendall ging über den rohen Holzboden. Sie öffnete den ersten Karton und untersuchte seinen Inhalt. Er enthielt Irenes und Henry Shaws Steuerbescheide der letzten drei Jahrzehnte. Sie nahm einen der Ordner und öffnete ihn. Die Handschrift ihres Vaters war sauber und akkurat, und er hatte den Kugelschreiber so fest aufgedrückt, dass die Einkerbungen im Papier immer noch zu sehen waren. Sie lächelte und strich mit den Fingern über das Blatt. Die Kehle wurde ihr eng. Zehn Jahre waren seit seinem Tod vergangen, und sie vermisste ihn immer noch.
    Kendall stieß einen Seufzer aus, legte den Ordner zurück und schloss den Karton. Ihre Hände zitterten vor Kälte, und ihre nackten Fußsohlen kribbelten. In einem anderen Karton fand sie ein staubiges Album voller Schwarz-Weiß-Fotos, das von Irenes Leben ab der frühen Kindheit bis zu ihrer Heirat mit Henry Zeugnis ablegte.
    Sie hatten Mitte der siebziger Jahre geheiratet. Irene hatte ihr blondes Haar offen getragen, dazu ein enges weißes Kleid, die Chiffonärmel mit breiten Manschetten. Kein Schleier. Henry trug einen blauen Smoking, breite Koteletten und eine große Fliege. Kendall lächelte, als sie den dichten Haarschopf ihres Vaters betrachtete. Solange sie denken konnte, war sein Haar immer schütter gewesen.
    Kendall klappte das Album zu und legte es vorsichtig wieder in den Karton. Sie stellte ihn weg und durchsuchte die anderen. Noch mehr Finanzunterlagen. Und dann fand sie schließlich im letzten Karton, in einer Fächermappe voller Steuerunterlagen versteckt, eine dünne Mappe, auf der in der sauberen, nach rechts geneigten Handschrift ihrer Mutter »Kendall« stand.
    Kendall hatte die Mappe noch nie zuvor gesehen. Und sie bemerkte, dass ihre Hände erneut zitterten – diesmal nicht vor Kälte, sondern vor Angst. Sie strich über die staubige Akte.
    Ein Schauer kroch ihr über den Rücken.
    Sie klemmte sich die Akte unter den Arm und stieg rasch die Stufen hinunter, dann löschte sie das Licht und schloss die Bodenluke, bevor sie sich wieder ins Bett kuschelte.
    Die Laken waren inzwischen kalt, und es dauerte ein wenig, bis ihr warm wurde. Sie rieb die Handflächen aneinander und öffnete die Akte, in der sich ein Foto und ein einzelnes Blatt Papier befanden.
    Das Foto, das an die linke Seite der Akte geheftet war, zeigte Kendall. Anders als die unzähligen Fotos, die ihr Vater und ihre Mutter von ihr gemacht hatten, war dies kein Farb-, sondern ein Schwarz-Weiß-Foto. Kendalls Haar war kurz geschnitten, und ihr Gesicht sah blass aus. Sie hatte die Augenbrauen zusammengezogen und starrte in die Ferne, als würde sie nach etwas Ausschau halten.
    Kendall fuhr den Umriss ihres jungen Gesichtes nach. »Du siehst so unglücklich aus.«
    Was war mit ihr geschehen, bevor das Bild gemacht worden war? Hatte ihre leibliche Mutter sie damals gerade verlassen? Trauerte sie um ihren Verlust?
    Kendall wurde das Herz schwer. Sie drehte das Foto um, aber die Rückseite war leer. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem losen Blatt Papier zu, das sich in der Akte befand. Es war ein Brief von einer Adoptionsagentur, der die Shaws darüber informierte, dass die Inkognito-Adoption von Kendall Elizabeth Shaw hiermit abgeschlossen sei. Das Gericht habe alle Geburtsurkunden unter Verschluss genommen.
    Im Briefkopf stand Adoptionsservice Virginia . Ihr Herz pochte wild. Diese Agentur besaß den Schlüssel zu ihrer Vergangenheit. Die Angestellten dort konnten ihr sagen, wo sie herkam.
    Während so vieler Jahre hatte sie die Gedanken an ihre leibliche Familie verdrängt. Jetzt konnte sie an nichts anderes mehr denken. Mit einem Mal lösten sich die Jahre der Verleugnung in nichts auf. An ihre Stelle trat ein heftiges Verlangen nach Gewissheit.
    Kendall vibrierte vor nervöser Energie. Ihr Blick wanderte zwischen dem Telefon und dem Foto des kleinen Mädchens, das so verloren aussah, hin und her. Sie fürchtete, dass sie einen Rückzieher machen würde, wenn sie noch länger zögerte, also nahm sie das Telefon vom Nachttisch und rief die Auskunft an. Als die Computerstimme sich meldete, fragte Kendall nach der Nummer der Agentur. Sekunden verstrichen. Und dann informierte die Stimme sie, dass der Anschluss außer Betrieb sei.
    Kendall kniff die Augen zusammen und schluckte einen Fluch hinunter. Sie wiederholte ihre Anfrage. Weitere Sekunden verrannen,

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