Niemand hört dich schreien (German Edition)
eine Maschine. Todd schliff heute den Boden ab. Todd war freundlich und plauderte gern, aber für Small Talk fehlte Kendall jetzt die Geduld, also lief sie an der Küche vorbei und die Treppe hoch zum Gästezimmer, wo sie das Fotoalbum in einer Schachtel unter dem Bett aufbewahrte.
Sie blätterte durch das Album, bis sie das Foto von ihrer Mutter und Jenny fand. Unter dem Bild stand: »Irene und Jenny Thornton feiern ihren vierzigsten Geburtstag.«
Kendall hatte ganz vergessen, dass Irene und Jenny am selben Tag Geburtstag hatten. Sie ging zum Nachttisch und zog ein Telefonbuch daraus hervor. Sie überflog die Einträge unter T, bis sie Mrs Jennifer R. Thornton gefunden hatte. Soreham Drive.
Sie wählte die Nummer. Ihr Herz klopfte wild.
Beim dritten Läuten ging jemand dran. »Hallo.« Die Stimme der Frau klang alt und brüchig.
Kendall räusperte sich. »Ich bin auf der Suche nach Jennifer Thornton. Sie war eine Freundin von Irene Shaw.«
Stille folgte. »Wer spricht denn da?«
Sie umklammerte das Telefon fester. »Hier ist Kendall. Irenes Tochter.«
»Kendall. Ich habe Sie nicht mehr gesehen, seit Sie ein kleines Kind waren.« Im Hintergrund wurde ein Wasserhahn abgestellt.
Kendalls Kehle fühlte sich trocken an. »Ich wollte Sie fragen, ob ich vorbeikommen und mit Ihnen über meine Mutter sprechen könnte.«
»Sicher, Liebes, wann denn?«
Gefühle stürmten auf Kendall ein. Das hektische Tempo der letzten Monate hatte die Gedanken an ihre Mutter verdrängt. Kendall hatte beinahe geglaubt, sie wäre immun geworden gegen den Schmerz. Jetzt erkannte sie, dass das nicht stimmte. Ihre Mutter wäre so enttäuscht gewesen, wenn sie von dieser Suche erfahren hätte. Kendall schob die Schuldgefühle beiseite. »Jetzt.«
»Natürlich. Kommen Sie vorbei. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Meine Güte, es ist so lange her.«
Die Distanz durch das Telefon störte Kendall. Sie musste Mrs Thornton sehen, ihr beim Sprechen in die Augen schauen. »Danke.«
Kendall legte auf und eilte die Treppe hinunter. Todd hatte die Schleifmaschine abgestellt, und als sie schon fast an der Haustür war, streckte er den Kopf aus der Küchentür. Sägemehl bedeckte sein Haar. »Ms Shaw, ich dachte, Sie wären zur Arbeit gegangen.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich habe etwas vergessen. Ich wollte gerade wieder gehen.«
Er nickte und griff mit der Hand in seine Hosentasche. »Ich habe etwas gefunden, von dem ich dachte, es interessiert Sie vielleicht.«
»Bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie verfaulte Dielen oder eine Leiche gefunden haben.«
Er grinste. »Nichts so Schlimmes.« Er zog einen kleinen Spiegel aus der Tasche. »Den hab ich hinter der Wand gefunden.«
Sie ging zu ihm hinüber und nahm den Spiegel entgegen. Er war in einen silbernen Rahmen eingelassen und passte in ihre Handfläche. Das Silber war angelaufen, und das Glas war blind geworden. Es war kein wertvolles Stück, aber es hatte einen gewissen Charme. Sie drehte es um und sah, dass auf der Rückseite undeutlich die Initiale E stand.
»Wo, sagten Sie, haben Sie das gefunden?«
»Es war hinter den Küchenschränken. Es muss bei der letzten Renovierung dorthin geraten sein.«
»Das war dann wohl in den späten Fünfzigern.«
Todd fuhr sich mit schwieligen Händen durch das dichte, ergrauende Haar. »Kann schon sein. Vielleicht hat ein kleines Mädchen ihn dort versteckt und dann vergessen.«
Kendall drehte den Spiegel in den Händen und versuchte, sich die Besitzerin vorzustellen. Ganz entfernt flackerte ein Bruchstück einer Erinnerung auf und verschwand wieder.
Todd trat einen Schritt zurück. »Dann gehe ich mal wieder an die Arbeit. Und Sie sehen so aus, als hätten Sie es eilig.«
Kendall riss sich vom Anblick des Spiegels los. »Ja. Danke, Todd.«
»Gern geschehen. Und Sie werden sich sicher freuen zu hören, dass Ihre Schränke pünktlich kommen. Ich habe dem Hersteller die Hölle heißgemacht, als er mir gesagt hat, er würde sich verspäten.«
Vor ein paar Tagen war ihr die Renovierung noch so wichtig gewesen, und jetzt schien sie so unbedeutend. »Danke.«
Kendall steckte den Spiegel in ihre Tasche und ließ Todd im Flur stehen. Sie lief durch die kalte Morgenluft zu ihrem Auto. In den wenigen Minuten hatte sich die Wärme aus dem Wageninneren verflüchtigt, und es war wieder eiskalt.
Kendall glitt hinters Steuer und ließ den Motor an. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und stellte fest, dass sie zwei Anrufe verpasst hatte. Sie sah
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