Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
Männer noch Angst hatten, überhaupt vor die Tür zu gehen. All das, um am Tag der Befreiung verleugnet zu werden? Was für eine Schande!«
Ja, was für eine Schande. So hatten sie es alle empfunden.
»Erinnern Sie sich an die Flut der Bilder, auf denen die Delegationen des Nationalen Übergangsrates bei ihren Staatsbesuchen in den westlichen Hauptstädten zu sehen sind?«, fragte mich diejenige, die als erste Frau 1975 in Bengasi zur Richterin ernannt worden war. »Weit und breit keine Frau in Sicht!« Und als Hillary Clinton am Tag vor der Gefangennahme Gaddafis nach Tripolis kam? »Keine einzige Libyerin war da, um sie zu empfangen!«
Die amerikanische Außenministerin hatte sich darüber übrigens öffentlich verärgert gezeigt und mit Nachdruck die Notwendigkeit der rechtlichen Gleichstellung von Mann und Frau betont.
»Wie demütigend das war!«, erinnerte sich die Hochschullehrerin Amal Jarari. »Aber so ist es: Kein Mann wird uns jemals mit auf ein Foto lassen oder ein wenig zur Seite rücken, um uns Platz auf einer Bühne machen, und sei sie noch so unbedeutend. Wir werden uns mit Gewalt durchsetzen müssen, und ich versichere Ihnen, dass die Fraueninitiativen dabei eine enorm wichtige Rolle spielen werden.«
Überall haben sich Frauen zusammengeschlossen, in Form von Klubs, Verbänden, Nichtregierungsorganisationen. Sie haben professionelle, freundschaftliche und regionale Netzwerke entwickelt. Die kleinen geheimen Zellen, entstanden während der Revolution, haben sich zu Hilfsorganisationen für Frauen, Kinder und Verletzte gewandelt, zu Organisationen im Dienste der Aussöhnung. Sie haben die Arbeit zahlreicher säumiger Dienststellen übernommen und gleichen das bittere Fehlen von Initiativen seitens der Regierung aus. Sie haben Kurse in Staatsbürgerkunde ins Leben gerufen, um den Frauen ihre Rechte und ihre Verantwortung in einer Demokratie vor Augen zu führen: »Das Wahlrecht ist ein Privileg. Nehmt es in Anspruch. Jetzt seid ihr am Zug!« Und sie brennen darauf, ihre derzeitige Präsenz in politische Lobbyarbeit zu überführen. Denn sie wissen genau, dass ihre Emanzipation nur darüber laufen kann.
Es genügt, eine kleine Runde auf Facebook zu drehen, um sich der Fülle weiblicher Gruppierungen zu vergewissern, die lebhaft über die Zukunft der Libyerinnen diskutieren, sich über die Situation der Frauen in den anderen arabischen Revolutionsländern austauschen und sich so schnell wie möglich zusammenschließen wollen. Sie sind voller Hoffnung. Sie kommentieren das Wahlgesetz, debattieren darüber, ob die Einführung von Quoten zweckmäßig ist oder nicht. Sie fordern mehr weibliche Repräsentanz: Ministerinnen, Botschafterinnen, Direktorinnen von Banken, in staatlichen Einrichtungen, in der Verwaltung, und betonen, dass sie zumindest »nicht in das System Gaddafi verwickelt waren«. Ihre Beiträge und Kommentare zu lesen ist anregend und unglaublich erfrischend! Ich musste schmunzeln, als ich auf Fotos stieß, auf denen sie stolz ihren neuen Wahlscheinschwenken. O ja, sie sind entschlossen, davon Gebrauch zu machen!
Sie posten mit Begeisterung, wenn ihnen etwas gefällt, aber geben auch zu, wenn sie deprimiert sind. Am 18. Mai 2012 konnte man von einer jungen Frau, die ich kannte, weil sie ein sehr aktives Engagement zeigte, eine etwas saloppe Nachricht lesen, aus der jedoch auch bittere Enttäuschung sprach: »Es ist Freitag, und das Wetter ist traumhaft. Aber als Frau, die in Libyen lebt, muss ich eingesperrt zu Hause bleiben und bin deprimiert, weil ich nicht an den Strand gehen darf. Warum gibt es keine Strände für Frauen? Ist die Küste nicht weitläufig genug? Mädels, wie viele von euch empfinden das Gleiche?«
Wie viele? Tausende!
»Das ist so ungerecht!«, antwortete eine von ihnen umgehend.
»Ich habe in einer Straße gewohnt, die direkt am Strand liegt, und ich durfte nicht mal einen Fuß in den Sand setzen!«, schrieb eine andere.
»Absolut inakzeptabel!«
Die Userinnen überboten sich in ihren Kommentaren.
»Das ist keine Frage der Gesetzgebung. Es geht hier um eine der Tragödien dieses Landes!«
»Ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich im Bikini schwimmen gegangen bin!«
»Im Bikini???«
Soraya geht nicht an den Strand und surft nicht im Internet. Sie hat keinen Facebook-Account, sie hat nicht einmal mehr Freundinnen, mit denen sie ihre Wut teilen oder sich auf eine Liste für die Wahlen setzen lassen kann. Aber sie hofft weiterhin,dass die sexuellen
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