Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
hatte, schrie sie ins Gesicht: »Du solltest lieber den Mund halten, alte Schwuchtel!« Sie schimpfte, fluchte, umgänglich wie ein Stachelschwein und nicht sonderlich um andere bekümmert. Meine Not aber hat ihr Angst eingejagt. Am Morgen stand sie in meinem Zimmer und sagte: »Komm, ich nehme dich mit zu mir. Ich habe die Erlaubnis erhalten. Pack ein paar Sachen für die nächsten Tage zusammen.«
Ich fiel ihr um den Hals. »Okay, okay!«, sagte sie und wehrte mich ab, sie war ja immer ein wenig schroff, aber ich sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Und so sind wir zu ihrer Familie gefahren. Ach, wie wohltuend war am Anfang dieser Eindruck von normalem Leben: ein Haus, Eltern, Mahlzeiten. Ich sehnte mich nach meiner eigenen Familie und rief Mama an. »Ihr müsst mich holen kommen.« Amal G. sprang auf. »Sag ihr nicht, dass du bei mir bist! Ich verbiete es dir! Wenn du es deiner Mutter erzählst, bringe ich dich auf der Stelle nach Bab al-Aziziya zurück.« Damit hattesie mich. Alles, nur nicht wieder in meinen Keller zurück, zu Gaddafi und Mabruka. Alles, selbst Mama anlügen, was ich noch nie getan hatte.
Und so entdeckte ich das seltsame zweite Leben von Amal G. Ihr Netzwerk, über das sie sich Alkohol beschaffte, ihre nächtlichen Trips im Auto, ihre Vertrautheit mit den Polizisten, denen sie begegnete – »Wie geht’s, Amal?« –, und diese Mischung aus Red Bull und Wodka, die sie am Steuer konsumierte, bevor sie sich anschließend mit Parfum einsprühte, um nach Hause zu fahren. Ich begriff, dass sie sehr geldgierig war und Verbindungen zu Geschäftsleuten unterhielt, die ihr Provisionen zukommen ließen. Und sehr bald erkannte ich auch, dass sie mich benutzte, um an einflussreiche und vermögende Männer heranzukommen. Ich fand mich auf Abendgesellschaften wieder, zu denen Amal noch andere Mädchen mitbrachte, wo Alkohol und Drogen allgegenwärtig waren, staatliche Würdenträger und nationale Prominenz sich drängten und viel Geld zirkulierte im Austausch gegen sexuelle Gefälligkeiten. Das also war’s, was man von mir wollte? Mein Reichtum bestand allein in diesem Körper, den ich hasste? Selbst außerhalb des Harems war das mein ganzer Wert? Es sei denn, meine Verbindung zu Bab al-Aziziya erhöhte in den Augen gewisser Männer sogar noch meinen Preis? Eine Nacht in dem opulenten Wohnsitz eines berühmten Cousins von Gaddafi brachte mir einen Umschlag mit 5000 Dinar ein, den Amal G. auf der Stelle einsteckte und den ich niemals zurückzufordern gewagt habe. Sie hatte mich in der Hand.
Eines Tages sagte mir Mama, mit der ich hin und wieder telefonierte, dass Inas, eine Freundin aus meiner Kindheit inBengasi, in Tripolis sei und mich so gern wiedersehen würde. Sie gab mir ihre Telefonnummer, und ich rief sie auch sofort an. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, wieder mit normalen Menschen in Kontakt zu treten, solchen aus meinem vorherigen Leben, ohne dass ich wusste, ob es überhaupt noch möglich war. Inas ging sofort begeistert auf mein Ansinnen ein. Ich bat sie um ihre Adresse und schlug ihr vor, gleich zu ihr zu kommen. »Wie? Du kannst raus aus Bab al-Aziziya?« Sie wusste es! Ich war überrascht. Wie hatte Mama wagen können, ihr die Wahrheit zu sagen, sie, die von Anfang an der ganzen Familie Lügen erzählte?
Ich nahm ein Taxi und bat Inas, es bei meiner Ankunft zu begleichen. »Wie ist es möglich, dass ein Mädchen, das beim Präsidenten wohnt, nicht weiß, wovon es sein Taxi bezahlen soll?«, scherzte sie. Ich lächelte, ohne etwas zu erwidern. Was wusste sie wirklich? Was bedeutete für sie »beim Präsidenten wohnen«? Glaubte sie, es wäre meine eigene Entscheidung? Ein Statut und eine echte Arbeit? Ich würde auf rohen Eiern gehen müssen. Wir traten ins Haus, und die ganze Familie kam, um mich zu umarmen. »Wir werden deine Mutter anrufen, damit sie auch herkommt«, sagte Inas plötzlich ganz aufgeregt.
»Nein!«
»Warum nicht?«
»Es darf nicht sein! ... Ich wohne vorübergehend bei einem anderen Mädchen, außerhalb von Bab al-Aziziya, und sie will nicht, dass man es erfährt.«
Alle sahen mich schweigend an, mit zweifelnder Miene. Die kleine Soraya belog also ihre Mutter ... Die Stimmung kippte mit einem Mal. »In welcher Beziehung stehst du zu Bab al-Aziziya?«, fragte jemand.
»Ich habe keine Lust, darüber zu reden. Mama hat euch meine Geschichte bestimmt erzählt.«
Darauf zündete ich mir eine Zigarette an, was eine Mischung aus Entsetzen und Missbilligung in
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