Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
die mich vor die Wahl stellte, dass sie mich entweder zu meinen Eltern oder nach Bab al-Aziziya bringen würde. Ich entschied mich für meine Eltern, doch mit welcher Angst! Das Vertrauen, ich sah es, war gebrochen. Mama musterte mich mit harter Miene, als stünde mir das Eingeständnis meiner Schande im Gesicht geschrieben. Als wäre ich nicht mehr ihr Kind, das man geraubt und dem man solches Leid angetan hatte. Als wäre ich ein schuldiggewordenes, ein gefallenes Mädchen. Mein Vater empfing mich mit größerer Herzlichkeit. Er sah mich aufmerksam an, ohne, so schien es, mich ganz und gar zu erkennen. Ich war, glaube ich, ein wenig gewachsen. Vor allem war ich älter geworden. Aber er musste seine Rolle als Vater spielen, und so verlangte er sehr bald Rechenschaft. Wer war dieser Hicham? Ich erzählte von dem Glück dieser zufälligen Begegnung, von seinem Mut, seiner Kaltblütigkeit, seinen Gentleman-Manieren und seinem Wunsch, mich zu heiraten. Sie hörten mir mit skeptischer Miene zu. Es war zwischen uns eine Distanz, die es nie zuvor gegeben hatte.
Meine Mutter wollte nicht mehr, dass ich das Haus verließ. Mehr aus Angst vor dieser neuen Gefahr als vor Bab al-Aziziya. Ich musste zu einer List greifen, so tun, als begleitete ich Papa irgendwohin, und ihn plötzlich stehenlassen, um Hicham für einen Moment zu treffen, der mir Nachschub an Zigaretten und eine neue SIM-Karte für mein Mobiltelefon besorgte. So würden Amal G. oder Mabruka mich nicht mehr erreichen können. Die Atmosphäre zu Hause war gespannt. Nicht rauchen zu dürfen machte mich fertig, und manchmal schloss ich mich in der Toilette ein, um schnell eine Zigarette durchzuziehen, worauf ich dann gleich Raumspray versprühte. Ich hatte keinen Gesprächsstoff. Ich fühlte mich wie in einem sonderbaren Schwebezustand. An einem Morgen zu sehr früher Zeit klopfte es an der Tür. Es war ein Fahrer aus Bab al-Aziziya. »Komm, Soraya. Man will dich dort sehen.«
Und so bin ich wieder hin. Mabruka brachte mich ins Labor, wo eine Schwester mir drei Kanülen Blut abnahm. Ich wartete eine Stunde lang in einem kleinen Salon, dann kam Salma und bellte mit barscher Stimme: »Geh rauf!« Der Führer erwartetemich in Jogginghose und Shirt. »Du dreckige Schlampe! Ich weiß, dass du mit anderen Männern geschlafen hast!« Er spuckte mir ins Gesicht, fickte mich, bepisste mich und sagte am Ende: »Du hast nur noch eine Möglichkeit: unter meinem Befehl zu arbeiten. Du kannst bei dir zu Hause schlafen, aber von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends hast du hier zu sein und mir zur Verfügung zu stehen. Du wirst endlich die Disziplin der Revolutionären Garden lernen.«
8
Flucht
Am nächsten Morgen klingelte Punkt halb neun ein Fahrer aus Bab al-Aziziya bei meinen Eltern. Ich fuhr also zur Arbeit. Ich hatte keine Ahnung, worin sie bestehen sollte, und hoffte nur, keinen Kontakt mehr zum Führer zu haben. Was mochte eine »Revolutionäre Gardistin« wohl zu tun haben? In welcher Form sollte ich die »Revolution« verteidigen? Die Antwort hatte ich bald: indem ich den afrikanischen Gästen des Führers den ganzen Tag lang Getränke servierte! Ich befand mich im selben Haus, mit denselben Leuten und derselben Chefin. Und um 3 Uhr morgens war ich immer noch da. »So hat es der Führer aber nicht gesagt«, beschwerte ich mich bei Mabruka.
»Trotzdem wirst du die Nacht hier verbringen.«
Doch ein Zimmer hatte ich nicht mehr. Eine »Neue« hatte meinen Platz eingenommen. Also bereitete ich mich darauf vor, wie ein Mädchen, das er irgendwo abgeschleppt hatte, auf einem der Kanapees im Salon zu übernachten. Aber kaum waren die letzten Afrikaner gegangen, wurde ich mit derNeuen in die Etage des Führers gerufen. Nein, nichts von alldem war revolutionär. Sie hatten mich hereingelegt.
Am nächsten Tag rief ich heimlich meinen Vater an. Unser Gespräch war kurz, ich spürte, wie nervös er war. »Soraya, es ist wichtig. Komm so bald wie möglich mit deinem Pass zu mir.« Das Unglaubliche war: Ich hatte ihn! Eine Nachlässigkeit von Mabruka bei unserer Rückkehr aus Afrika.
Ich schützte eine dringende Besorgung vor, die ich mit einem Fahrer von Bab al-Aziziya erledigen müsste, bat ihn, sich ein Weilchen zu gedulden, sprang in ein Taxi, um mich mit meinem Vater zu treffen, der in seinem Auto auf mich wartete. Er brauste los und fuhr mich zur Französischen Botschaft, um einen Eilantrag für ein Visum zu stellen, wozu sie ein Foto und meine Fingerabdrücke brauchten. Mit ein
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