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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annick Cojean
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bisschen Glück und dank einer alten Seilschaft meines Vaters mit einem Angestellten der Botschaft sicherte man uns zu, dass das Visum innerhalb einer Woche statt eines Monats vorliegen würde. Eine knappe Stunde später, nachdem er unter Umgehung der großen Verkehrsadern nur durch kleine Gassen gefahren war, den Blick tausendmal im Rückspiegel, setzte Papa mich in ein Taxi, das mich wieder zu meinem Chauffeur brachte, und ich kehrte nach Bab al-Aziziya zurück.
    Tags darauf spielte ich wieder die Kellnerin. Das Haus war voll berühmter Leute, darunter auch Stars, die selbst ich inzwischen erkannte: ein Filmregisseur und ein Sänger aus Ägypten, eine libanesische Sängerin, Fernsehballerinen und Showmaster. Gaddafi kam aus seinem Büro, schritt hinüber in den großen Salon und setzte sich zu ihnen. Danach ging er in sein Zimmer hinauf, wohin viele von den Gästen ihmeiner nach dem andern folgten. Ein gut gefüllter Samsonite Koffer stand für einige von ihnen bei ihrem Abschied bereit.
    Ich durfte in das Haus meiner Eltern zurückkehren, aber ich begriff bald, dass mein Platz nicht mehr dort war. Ich war für sie eine Fremde. Ein schlechtes Beispiel für alle. Mama, die mir gegenüber sehr distanziert geworden war, lebte die meiste Zeit mit meiner Schwester und meinem jüngsten Bruder in Sirte. Die beiden Ältesten waren zum Studium ins Ausland gegangen. In Tripolis lebte also nur noch mein Vater mit meinen beiden anderen Brüdern. Aber es lief nicht gut. Es war eine einzige Katastrophe. »Was ist das für ein Leben?«, fragte Papa. »Was für ein Vorbild bist du für deine Brüder und die ganze übrige Familie?« Es war so viel einfacher, als sie mich gar nicht sahen. Selbst tot wäre ich weniger störend gewesen. So geschah etwas Unfassbares: Ich zog es vor, nach Bab al-Aziziya zurückzukehren.
    Wieder ins Labor. Blutentnahme. Behelfsbett im Salon, in der Erwartung, dass ich in der Nacht nach oben gerufen würde. Dann aber rief mein Vater mich an: »Halt dich bereit. In vier Tagen hast du dein Visum für Frankreich.«
    Mit Mut gewappnet trat ich Gaddafi gegenüber. »Meine Mutter ist sehr krank. Ich brauche zwanzig Tage Urlaub.« Er gab mir zwei Wochen. Und ich bin nach Hause zurück. Aber wieder diese Atmosphäre! Ich versteckte mich, um rauchen und Hicham anrufen zu können, ich ging allen auf die Nerven. Also log ich schon wieder, gab vor, dass ich einen neuerlichen Anruf aus Bab al-Aziziya erhalten hätte, und ging zu meinem Geliebten. Ich wusste, wie gefährlich das war, dass ich damit die geschützte Zone verließ, aber was bedeutete schon ein bisschen mehr, ein bisschen weniger Gefahr ...Mein ganzes Leben war seit langem aus dem Gleis! Die Lüge war mir zu einem Instrument des Überlebens geworden.
    Ich blieb zwei Tage mit Hicham in einem Bungalow, den ein Freund ihm zur Verfügung stellte. »Ich liebe dich«, sagte er mir. »Du kannst nicht einfach so weggehen.«
    »Es ist die einzige Lösung. Ich kann nicht mehr in Libyen leben. Bab al-Aziziya wird mich niemals in Ruhe lassen, meine Familie sieht in mir eine Art Monster. Und dir werde ich nichts als Ärger einbringen.«
    »Warte ein bisschen, wir könnten gemeinsam ins Ausland gehen.«
    »Nein. Wenn ich hier bleibe, werde ich verfolgt und bringe dich in Gefahr. Wegzugehen ist meine einzige Hoffnung, von Gaddafi vergessen zu werden.«
    Ich bin nach Hause zurück, um meinen Koffer zu packen. Ich bewegte mich wie eine Schlafwandlerin, gleichgültig gegenüber allem, was um mich herum vorging. Man hatte mir gesagt, dass der Februar in Frankreich sehr rau wäre, ich würde richtige Schuhe brauchen, einen warmen Mantel. In einem Wandschrank fand ich ein ganzes Sortiment Kleidungsstücke, die Mama für mich gekauft hatte, als sie in Tunesien war. »Die sind für Soraya«, hatte sie zu meinem Vater gesagt. »Dieses Jahr wird sie bestimmt nach Hause kommen.« Mama ... Seit fünf Jahren wartete sie auf meine Rückkehr. Tagsüber bot sie allen verfänglichen Fragen die Stirn und hielt die Familie mit eiserner Hand zusammen. In der Nacht weinte sie, bat Gott, ihr kleines Mädchen zu beschützen und es ihr zurückzubringen. Aber nun war ich kein kleines Mädchen mehr, und ich hatte sie enttäuscht.Papa hatte mich gebeten, sehr früh aufzustehen. Er war bleich. Nein, grün, die Lippen nahezu weiß. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Er starb beinahe vor Angst. Er hatte sich Gel in die Haare geschmiert, um sie nach hinten kämmen zu können, und trug einen dunklen

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