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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annick Cojean
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so idiotischen Vorwand mit diesen drei Frauen wegging! Das ergab überhaupt keinen Sinn! Als meine Frau mir das mitteilte, ohne dass sie am Telefon allzu viel zu sagen wagte – man wusste ja, dass jeder in Libyen abgehört wurde –, bin ich von Tripolis nach Sirte gerast und habe sie nur noch angebrüllt, ich konnte mich einfach nicht beherrschen. Die Situation war grauenhaft. Wir haben eine Nacht, zwei Nächte, drei Nächte gewacht,ich bin wahnsinnig geworden. Ich hätte gewollt, dass die Erde sich auftut und mich verschlingt. Die Klassenkameradinnen von Soraya, ihre Lehrer, unsere Nachbarn, die Kundinnen im Salon, alle fragten: Aber wo ist sie denn? Da bin ich zurück nach Tripolis, und nun konnte ihre Mutter sagen: Sie ist bei ihrem Vater.«
    Klage erheben? Bei wem? Warum? Soraya war, begleitet von Leibwächterinnen des Führers, in einem Wagen des Protokolls weggefahren. Jeder Protest war undenkbar. »Wer würde in der Hölle Anklage gegen den Teufel erheben?« Und als die Eltern die Bestätigung erhielten, dass ihre schlimmste Befürchtung eingetreten war und Gaddafi Soraya tatsächlich zu seiner Beute gemacht hatte, brachen sie zusammen. »Es gab nur eine Alternative: die Schande oder den Tod. Denn ihn anzuprangern, Protest zu erheben oder sich zu beklagen hätte unser Todesurteil bedeutet. Also habe ich mich in Tripolis vergraben und den Geschmack des Glücks für immer vergessen.«
    Er hätte so sehr gewünscht, dass seiner Tochter Gerechtigkeit widerfahren würde. Dass sie erhobenen Hauptes, mit »reingewaschener Ehre« in die Familie zurückkehren könnte. Aber es war unmöglich, das wusste er. »Alle in unserem Umfeld ahnen, was mit Soraya geschehen ist, und betrachten mich logischerweise als ›Untermenschen‹. Eine schlimmere Beleidigung gibt es bei uns nicht. Und sie trifft auch meine Söhne. Sie sind vernichtet, voller Komplexe, und können sich, um als wahre Männer dazustehen, keinen anderen Ausweg vorstellen, als ihre Schwester zu töten. Es ist grauenhaft! Soraya hat überhaupt keine Chance mehr in Libyen. Dafür ist unsere traditionelle Gesellschaft viel zu beschränkt und zu erbarmungslos. Soll ich Ihnen was sagen? So schmerzlich esfür mich als ihren Vater wäre, aber manchmal träume ich davon, dass eine ausländische Familie sie adoptiert.«
    Ich musste nach Sirte fahren, in die Stadt von Gaddafi. Ich wollte das Haus sehen, in dem Soraya aufgewachsen war, den Frisiersalon, den ihre Mutter mit energischer Hand führte, die Schule, in der sich die Szene mit dem Blumenstrauß abgespielt hatte. Soraya war nicht begeistert davon und wollte mich auch nicht begleiten, aber sie verstand mich. Sie fragte sich ja selbst, was aus der 360 Kilometer östlich von Tripolis gelegenen Gaddafi-Hochburg geworden war, früher ein kleines Fischerdorf, das der Herrscher von Libyen in seinen Träumen in die Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Afrika verwandeln wollte. Im Herbst 2011 war es zum Brennpunkt erbitterter, blutiger Kämpfe geworden und wurde von der NATO schwer bombardiert. Seitdem sprach man von Sirte als einer Phantomstadt, die sich in Verbitterung verzehrte und krank war von ihren größenwahnsinnigen Träumen, die nun zerstört vor ihr lagen. Als Gaddafi sich entschied, im letzten Augenblick hierher zu flüchten, und damit einen Orkan aus Stahl, Pulver und Feuer auf die Stadt herablenkte, hat er ihr ganz entschieden keinen guten Dienst erwiesen.
    Die Straße war lang, gerade und bald sehr monoton. Sie zog sich durch unendliche wüstenähnliche Weiten, von denen sich unter einem metallischen Himmel hier und da eine Schafherde oder ein paar verstreute graue Dromedare abhoben. Mitunter prasselten Körner gegen die Windschutzscheibe. Dann kam Wind auf, der den Sand hochwirbelte und das Fahren zu einem gewagten Unternehmen machte. Silhouetten von Beduinen tauchten im letzten Augenblickam Straßenrand auf, schützend hielten sie sich mit einer Hand den Schal vor ihr Gesicht, und jeden Moment musste man damit rechnen, dass einem eines ihrer Tiere vor den Wagen lief. An den Checkpoints winkten Rebellen mit Kapuze und Sonnenbrille zum Schutz gegen den Sand den Wagen mit einer knappen Geste ihrer Kalaschnikow durch, wenig interessiert an einer Überprüfung der Personalien. Kein Wetter für eine Durchsuchung. Der Wüstenwind, heißt es, macht verrückt. Aber ganz allmählich kam die Sonne durch. Und Sirte erschien am Horizont. Vielmehr das Skelett der Stadt.
    Ganze Reihen leerer, verwüsteter und

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