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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annick Cojean
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Weise engagiert. Alle hatten mitgemacht, um den Schutt zu beseitigen, Türen, Fenster und die Sanitäranlagen zu reparieren und das gesamte Gebäude neu zu streichen. Die Lehrmaterialien– Mikroskope, Fernsehgeräte, Computer – waren gestohlen, Büros, Bibliotheken und Laborräume restlos geplündert. Mangels staatlicher Unterstützung hatten die Familien zusammengelegt. Sirte war schwer getroffen und ausgeblutet, aber das war kein Grund, dass die Kinder nicht zur Schule gehen sollten. Es war ohnehin alles schon hart genug. »Niemand kann sich vorstellen, wie sehr unsere Schülerinnen traumatisiert sind! Manche Familien haben in den letzten Kämpfen bis zu fünf Angehörige verloren. Es kommt vor, dass ein Mädchen während des Unterrichts plötzlich einen hysterischen Anfall kriegt oder ohnmächtig wird. Ein bloßes Wort, ein Bild kann einen Tränenausbruch auslösen. Unsere Sozialarbeiterin kann das nicht mehr leisten. Was wir bräuchten, wären Psychiater.«
    Es fehlte der Schule an Lehrern. Einige Lehrerinnen hatten in der Schlacht um Sirte ihren Mann verloren und konnten oder wollten den Unterricht nicht wieder aufnehmen. Ein Teil des Personals war verschwunden. Umgekommen? »Abgehauen«, sagte er nüchtern. Wie zum Beispiel der ehemalige Direktor. »Er hat Libyen verlassen. Wir haben keinerlei Nachricht von ihm.« Vermutlich zu Gaddafi-treu, um hoffen zu dürfen, dass er seinen Helden problemlos überleben würde. So sei er, Muhammed Ali Mufta, zu seinem Nachfolger ernannt worden. Er unterrichte schon seit neunzehn Jahren an der Schule und traue sich diese neue Verantwortung zu. Zumal es, so versicherte er, entgegen den Gerüchten keinen »Umsturz« in den Lehrplänen geben werde. Ich zuckte zusammen. Hatte der neue Erziehungsminister nicht gerade erst betont, wie notwendig eine Revolutionierung der Pädagogik sei, wie dringlich man den gesamten Lehrstoff überarbeiten und eine Expertengruppe gründen müsse, die den Auftraghabe, die Schulbücher gänzlich neu zu schreiben? Rebellen hatten mir von einigen Auswüchsen ihres Schulunterrichts erzählt, die auf Gaddafis Konto gehen. Im Geographieunterricht zum Beispiel wurde die arabische Welt als unteilbare Einheit dargestellt, die Landkarten verzeichneten nur Städte und keine Ländergrenzen. Das Studium des Grünen Buches nahm mehrere Stunden pro Woche in Anspruch und ging über Jahre. Der Unterricht in westeuropäischen Sprachen war zu Beginn der achtziger Jahre abgeschafft worden, dafür wurden Subsahara-Sprachen wie Suaheli und Hausa gelehrt. Die Geschichte Libyens begann schlicht mit Gaddafi, die Dynastie der Sanussi in der Zeit vor 1969 wurde nicht einmal erwähnt ...
    »Unsere Schule ist naturwissenschaftlich orientiert«, erwiderte der Direktor schroff. »Wir sind also von den Veränderungen nicht allzu sehr betroffen, zumal wir auch schon vorher eine aus Singapur übernommene Unterrichtsmethode praktiziert haben. Was den Unterricht in politischer Erziehung angeht, den brauchten wir nur abzuschaffen.«
    Da habe ich meine Frage gestellt. Die Frage, die mir seit dem Betreten dieses Gymnasiums auf den Lippen brannte. Der Besuch des Obersts Gaddafi im April 2004. Das Überreichen von Blumensträußen und Geschenken durch einige hübsche Schülerinnen. Und die nachfolgende Entführung einer von ihnen, die der Führer sich ausgesucht hatte, um sie zu seiner Sexsklavin zu machen. Hatte er von dieser Geschichte gehört? Da flammte es in seinen kohlrabenschwarzen Augen auf. Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, schrie er: »Das stimmt nicht! Es wäre grotesk! Idiotisch!« Wie bitte? »Was Sie da sagen, ergibt überhaupt keinen Sinn! Oberst Gaddafi hat nie Schulen besucht!« Er war geradezu empört,außer sich. Ruhig entgegnete ich: »Ich habe dieses Mädchen getroffen. Ihre Aussage ist ernst zu nehmen. Sie nennt mir sämtliche Einzelheiten.« – »Falsch, sage ich Ihnen! Total falsch!« Man konnte sich vor ihm fürchten, wenn er so schrie. Ich fuhr fort: In Libyen war man es doch gewohnt, dass der Führer Schulen und Universitäten besuchte, selbst noch mitten in der Revolution. Die Zeitungen brachten Fotos davon, das Fernsehen filmte ihn ... »Nicht in Sirte! Das war SEINE Stadt! Man hat es uns oft genug zum Vorwurf gemacht. Er hat sich in Sirte nie in einer Schule blicken lassen! Das versichere ich Ihnen!«
    Wie sehr hätte ich gewollt, Soraya wäre in diesem Augenblick bei mir gewesen, sie hätte ihn durch die Genauigkeit ihrer Aussage in die Enge getrieben

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