Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
aus meinem Leben machen? Wie konnte ich es wieder in den Griff kriegen? Ich war erst zweiundzwanzig und hatte das seltsame Gefühl, schon zu viel gesehen, zu lange gelebt zu haben; dass meine Augen und mein Körper müde waren. Verbraucht für alle Zeiten. Ohne Spannkraft. Ohne Verlangen. Ohne Hoffnung. Ich steckte in einer Sackgasse. Ich hatte kein Geld, keine Ausbildung, keinen Beruf. Mit meiner Familie zu leben war unmöglich geworden, meine Brüder kannten die Wahrheit. Wo sollte ich also leben? Kein libysches Hotel darf eine Frau ohne Begleitung aufnehmen. Kein respektabler Hauseigentümer ist bereit, einer nicht verheirateten Frau ein Zimmer zu vermieten. Hayat, meine nette tunesische Cousine, hatte sich bereit erklärt, mir für eine kurze Zeit in Tripolis beizustehen. Aber danach?
Ich hatte gehört, dass der Internationale Strafgerichtshofeinen Haftbefehl gegen Gaddafi wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen hatte. Und so habe ich all meine Hoffnung auf die Kraft meiner Zeugenaussage gesetzt. Man musste mich anhören. Ich musste meine Geschichte erzählen, und ich selbst musste gnadenlos Anklage erheben gegen meinen Henker. Denn ich wollte ihn hinter Gittern sehen. Ich wollte ihm ein letztes Mal gegenübertreten, ihm in die Augen sehen und ihn kalt fragen: Warum? Warum hast du mir das angetan? Warum hast du mich vergewaltigt? Warum hast du mich gefangen gehalten, geschlagen, mir Drogen gegeben, mich beleidigt? Warum hast du mir das Trinken und das Rauchen beigebracht? Warum hast du mir mein Leben gestohlen? Warum?
Und nun ist er tot, hingerichtet von den Rebellen am 20. Oktober, kaum war er aus dem Abwasserrohr herausgekrochen, in das er sich geflüchtet hatte. Welche Ironie des Schicksals für einen, der sie als Ratten beschimpft hatte! Ich habe im Fernsehen sein blutüberströmtes Gesicht und seinen Körper gesehen, wie sie ihn in einem Kühlraum in Misrata ausgestellt hatten wie ein Stück havariertes Fleisch. Und ich weiß nicht, was ich in dem Moment am stärksten empfand: die Erleichterung, ihn nun endgültig besiegt zu wissen, das Entsetzen über all diese Gewalt oder den Zorn, dass er damit einer Verurteilung entgangen war. Sicher den Zorn. Er war krepiert, ohne den Libyern Rechenschaft ablegen zu müssen, die er zweiundvierzig Jahre lang mit Füßen getreten hatte. Ohne dass er vor einem internationalen Gericht, im Angesicht der ganzen Welt hätte erscheinen müssen. Und vor allem vor mir.
Rebellen, denen ich meine Geschichte anvertraute, führten mich dorthin, wo lange Zeit die Militärakademie derFrauen untergebracht gewesen war – heute ist der Ort von einer ihrer Brigaden besetzt. Man hat mich lange angehört und mir versprochen, dass mir Gerechtigkeit widerfahren würde. »Es gibt noch viele andere Mädchen, die dasselbe Schicksal erlitten haben wie du.« Man wies mir eine zeitweilige Unterkunft aus dem Bestand der beschlagnahmten Wohnungen einstiger Söldner Gaddafis zu. Zu Unrecht habe ich mich dort in Sicherheit gefühlt. Ein Rebell hat mich missbraucht. Ein Mädchen mit einer solchen Vergangenheit ...
Diesmal habe ich Klage erhoben. Trotz der Schande und trotz der Drohungen. Ich habe durchgehalten. Das heutige Libyen gibt sich als Rechtsstaat, ich versuche ihm zu vertrauen. Aber ich musste umziehen. Und mich verstecken. Und ich muss versuchen, die immer brutaler werdenden Schmähungen zu ignorieren, die mich über mein Mobiltelefon erreichen.
Ich glaube, ich habe alles gesagt. Es war mir ein Bedürfnis, und vielleicht war es auch meine Pflicht. Es war nicht leicht, glauben Sie mir. Ich kämpfe noch immer mit einer Flut widerstreitender Empfindungen, die mich nicht zur Ruhe kommen lassen. Angst, Schmach, Trauer, Bitterkeit, Ekel, Empörung. Das ist ein Aufruhr! An manchen Tagen verleiht er mir eine Kraft, die mir wieder ein wenig Vertrauen in meine Zukunft gibt. Meistens aber drückt er mich nieder, stürzt mich in einen Abgrund von Traurigkeit, und dann denke ich, da komme ich nie mehr heraus. Ein verlorenes Mädchen, seufzen meine Eltern. Ein Mädchen, das man töten muss, denken meine Brüder, deren Ehre auf dem Spiel steht. Und dieser Gedanke lässt mich zu Eis erstarren. Mich umzubringen würde aus ihnen geachtete Männer machen. Das Verbrechenwürde sie von der Schande reinwaschen. Ich bin beschmutzt, also beschmutze ich sie. Ich bin erledigt, wer also würde meinen Tod beweinen?
Ich möchte mir im neuen Libyen ein Leben aufbauen. Ich frage mich, ob das möglich
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