Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
geplünderter Häuser. Häusergerippe mit geschwärzten Mauern, zerlöchert von Raketeneinschlägen und Mörsergranaten. Manche Häuser und Gebäude nur noch Ruinen, oder besser gesagt: Berge von Steinen. Hier waren die Kämpfe verzweifelt und mit großer Brutalität geführt worden. Weiter weg sah es nicht ganz so schlimm aus. Nur wenige Gebäude in der Stadt waren unversehrt geblieben, aber auf den breiten, palmengesäumten Avenuen sah man hier und da schon wieder ein paar geöffnete Läden. »Das Leben ist bald danach weitergegangen«, sagte mir ein Händler. »Manche Leute sind natürlich geflohen, und die wird man auch nicht mehr wiedersehen. Aber siebzig Prozent der siebzigtausend Einwohner sind zurückgekehrt. Sie haben sich darauf eingestellt. Und bauen wieder auf. Selbst wenn sie sich zu zehnt im einzigen noch halbwegs bewohnbaren Raum ihres Hauses zusammendrängen müssen. Was soll man auch anderes tun?«
Der Abschnitt der Dubai-Straße, in dem die Wohnung von Sorayas Familie lag, war nahezu verschont geblieben. Die Reihe weißgetünchter Häuser mit drei oder vier Geschossen, eins wie das andere, wiesen wenige Narben vom Krieg auf.Manche Eingangstüren waren in Grün frisch gestrichen (der Farbe Gaddafis, die nunmehr im ganzen Land verpönt war, aber vielleicht hatte man noch alte Vorräte davon verbrauchen müssen), und unter den Arkaden waren einzelne Geschäfte für Bekleidung, Drogerieartikel und Kosmetika geöffnet. In einer Nebenstraße befand sich der Frisiersalon. Der von Einschüssen durchlöcherte eiserne Rollladen war heruntergelassen und konnte zu falschen Schlüssen verleiten. Aber ein Anwohner erklärte mir, das sei, um die Kundinnen vor den Blicken der Passanten zu schützen, denn die zerbrochene Schaufensterscheibe habe noch nicht wieder ersetzt werden können. Im Innern des Salons war eine Angestellte dabei, einer affektiert wirkenden jungen Kundin goldblonde Strähnchen zu legen; eine andere kam lächelnd auf mich zu, um mir gleich zu sagen, dass es heute keine freien Termine mehr gebe. Drei Frauen in hautengen Jeans, einen Schleier über den Haaren, saßen wartend herum und musterten mich. Nein, die »Chefin« sei im Augenblick nicht da. Ich warf einen Blick durch den Raum, versuchte irgendein Detail auszumachen, das an Soraya erinnert hätte. Aber an den in Schwarz und Rosa gehaltenen Wänden hing weder ein Foto noch eine besondere Dekoration. Nur ein paar ovale Spiegel, in denen ich gern ihr Abbild gesehen hätte.
Voller Ungeduld fuhr ich zur Schule. »Schule der arabischen Revolution«. Ein gewaltiges Bauwerk in Sandfarben und Weiß, offensichtlich gar nicht beschädigt oder aber sehr gut restauriert. Es war kurz nach 13 Uhr, und Dutzende Kinder, Mädchen und Jungen, drängten sich in den Fluren. Die weiten, frisch gestrichenen Treppenhäuser hallten von ihrem Geschrei wider. Draußen zerstreuten sich andere Schüler übereinen mit rosa Fliesen ausgelegten Innenhof, an den sich eine Turnhalle und ein Sportplatz anschlossen. Die Mädchen trugen genau die Schuluniform, die Soraya mir beschrieben hatte: schwarze Hose und Tunika, darüber ein weißes Tuch, das die Haare verbarg; aber ihr jugendliches Alter überraschte mich. Soraya hatte mir von einer Schule erzählt, die nur die drei Gymnasialjahrgänge besuchten, das heißt Schülerinnen zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren. War ich am richtigen Ort?
Ein Mann mit abgezehrtem Gesicht und mächtigem Schnauzbart klärte mich auf. Zwei Schulen von Sirte, in denen sich Waffenlager befunden hatten, waren bei den NATO-Luftangriffen getroffen und vollkommen zerstört worden. So mussten die Schüler nun im Rotationsverfahren unterrichtet werden, um die stehen gebliebenen Gebäude maximal zu nutzen. Eine Schule war am Vormittag dran, eine andere am Nachmittag. Über sein Mobiltelefon riefen wir den Direktor des Mädchengymnasiums an, der das Haus am Vormittag genutzt hatte und nun schon gegangen war. Fünf Minuten später war er da. Groß, athletisch, das Gesicht von einem dichten Bart eingerahmt. Sehr kühl, etwas argwöhnisch. Wir setzten uns in ein leeres Klassenzimmer, und er berichtete mir von der Lawine von Problemen, die bewältigt werden mussten, damit seine 913 Schülerinnen zum 15. Januar in die Schule zurückkehren konnten, nur zwei Wochen nach dem Termin für das übrige Libyen. Eine Leistung in Anbetracht der Tatsache, dass die Kämpfe hier sehr viel länger gedauert hatten als anderswo. Die Eltern hatten sich in großartiger
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