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Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)

Titel: Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annick Cojean
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und zum Schweigen gebracht. Drei Tage später würde ich ihr die Szene schildern, ihr Fotos von der Schule zeigen, die sie mir aus der Erinnerung kommentieren würde, und sicher würde sie zunächst niedergeschmettert sein, dann aber wütend werden. Darum insistierte ich ein letztes Mal. In diese Schule seien auch Kinder von Verwandten des Führers gegangen, Angehörige seines Stammes. Und da er sich bekanntlich sehr für die Volksbildung interessiert und ihr sogar die Richtlinien vorgeschrieben habe, sei es ja nicht ganz abwegig, dass er diesen Kindern einen freundschaftlichen Besuch abgestattet habe ...
    Aber Muhammed Ali Mufta regte sich nicht ab. »Niemals! Alles Geschwätz! Vielleicht ist es mal vorgekommen, dass er sich mit einem Video an die Schüler wandte, das wir ihnen dann auf der großen Leinwand gezeigt haben. Aber mehr nicht!« Sinnlos, weiter zu beharren. Ich würde nicht mehr aus ihm herauskriegen. Und auf einmal erschien es mir sogar riskant, ihm Sorayas Namen zu nennen – nach dem er seltsamerweisenicht gefragt hatte –, denn es konnte ihre Familie neuerlichen Repressalien aussetzen. Sirte hatte ganz offensichtlich kein neues Kapitel aufgeschlagen.
    Ich wollte die Schule gerade verlassen, als ich plötzlich in einem kleinen Raum, der von dem weitläufigen Flur auf der ersten Etage abging, einen ganzen Schwarm sehr junger Lehrerinnen bemerkte. Sie kamen und gingen, vermutlich zwischen zwei Unterrichtsstunden, um hier einen Tee zu trinken, eine Tasche abzustellen, einen Schwatz unter Kolleginnen zu halten. Ich schlüpfte hinein. Schnell war ich umringt, ein Stuhl wurde mir angeboten, ein Obstsaft, und innerhalb weniger Sekunden, kaum hatte sich die Tür geschlossen, verwandelte sich der kleine Raum, der vollgestellt war mit Emblemen der Revolution, in einen Taubenschlag. Alle sprachen gleichzeitig, überboten einander an Geschichten, an Erinnerungen, an Empörung. Eine begann zu erzählen, wurde von einer anderen unterbrochen, die noch eins draufsetzte, bevor eine Dritte dazwischenrief: »Warten Sie! Ich hab noch was viel Schlimmeres erlebt!« Ich kam mit meinen Notizen gar nicht so schnell hinterher. Es war, als hätte man in einem Wildwasser eine Schleuse geöffnet. Sie waren nicht mehr aufzuhalten.
    Entführungen von Mädchen? »Ganz Sirte wusste davon!« Das Gaddafi so ergebene Sirte? Eine besonders Hübsche mit kajalumrandeten Augen unter makellosen Brauen versuchte es mir zu erklären: »Er hatte große Macht über die Leute in der Stadt, über seinen Stamm, seine Familie. Die Schule erzog uns in seinem Kult, dabei wusste alle Welt, dass er in moralischer Hinsicht ein Schwein war. Wenn einer behauptet, er habe das nicht gewusst, lügt er!« Ihre fünf Kolleginnen stimmten ihr lautstark zu, sie fanden die Äußerungen des Direktorsmir gegenüber »zum Kotzen«. »Sein Vorgänger hat sich aus dem Staub gemacht, nachdem er zu den letzten Getreuen Gaddafis gehört hatte. Leider vertreten die neuen Führungskräfte häufig dieselbe Linie. Wie im Übrigen auch unser ehemaliger Direktor [der die Schule geleitet hatte, die am Nachmittag im Haus Unterricht abhielt], bevor wir beim Ministerium seine Ablösung verlangt haben mit dem Hinweis, dass er die militärische Intervention des Westens in Libyen nach wie vor verurteilte und die jungen Hirne vergiftete.« Eine der Frauen bestätigte mir, dass sie Schülerin an Sorayas Gymnasium gewesen sei und selbst gesehen habe, wie Gaddafi durch das Gymnasium »stolzierte«. Sie zeigte durchs Fenster auf das Gebäude auf der anderen Seite des Hofs. An Soraya erinnerte sie sich nicht, aber in dem einen Punkt war sie sehr entschieden: Der Führer war sehr wohl in die Schule gekommen. Ihre Kollegin, eine junge Frau mit einem von einem roten Schleier umhüllten lustigen Gesicht, hatte ihn zwei Jahre zuvor auch an der Universität in Sirte eine seiner Mammutreden halten hören. »Als er kam, war das ganze Viertel abgeriegelt, die Vorlesungen wurden unterbrochen, die Zeit war aufgehoben.«
    Jede Gelegenheit war ihm recht, so versicherten sie, um junge Mädchen zu treffen. Er lud sich im letzten Augenblick zu Hochzeitsfeiern ein. »Die meisten Gäste fühlten sich geschmeichelt«, sagte eine der Frauen. »Aber meine Onkel, obwohl sie zu seiner Familie gehören, untersagten mir sofort, mich blicken zu lassen.« Er forderte die Schüler auf, regelmäßig in die Al-Saadi-Kaserne zu kommen, wo er während eines Musikfestivals residierte. »Ich bin zwei Tage nacheinander mit

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