Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
meiner Schule hingegangen, dann aber haben meine Eltern es mir verboten. ›Es ist der Ort aller Gefahren‹, erklärtemir mein Bruder. ›Und wenn sie nicht von ihm ausgehen, dann von seinem Umfeld, den Offizieren, den Wachen, irgendeinem Militär. Seine Sitten sind ansteckend!‹« Er ließ verkünden, es ginge ihm nicht gut, damit Studentinnen zu ihm kamen, ihn aufzumuntern. »Ich war sechzehn und Schülerin am Gymnasium des Avantgardistischen Denkens, als ein Lehrer uns mitteilte, Papa Muammar sei krank. Ein Bus wurde gechartert, um uns zur Kaserne zu fahren, wo er uns in seinem Zelt empfing. Er trug eine weiße Jallaba und eine kleine beigefarbene Baumwollkappe und umarmte uns der Reihe nach. Wir waren sehr eingeschüchtert, aber krank sah er überhaupt nicht aus!« Eine andere erinnerte sich, dass auch sie mit ihrer Schule einmal zu dieser Katiba gefahren worden war, um Oberst Shadli bin Jadid, den algerischen Präsidenten, zu begrüßen. »Gaddafi brauchte unentwegt einen Schwarm junger Mädchen um sich. Wir dienten ihm zu Propagandazwecken und nährten gleichzeitig seine Obsession.«
Eines Tages, so erzählte schließlich eine dieser Lehrerinnen, veranstaltete ein in Misrata beheimateter Clan ein großes, offizielles Treuefest für den Führer. Er liebte solcherart Kundgebungen, da er ständig in Sorge war um seinen Rückhalt in den einzelnen Stämmen. Dort wurde er auf ein junges Mädchen aufmerksam, die Freundin der Erzählerin. Am nächsten Tag kamen Wachen in die Schule, sie zu holen. Der Direktor weigerte sich: Es sei nicht der Augenblick, das Mädchen sei gerade in einer Prüfung. Aber noch am selben Abend wurde sie von einem Hochzeitsfest entführt. Sie blieb drei Tage verschwunden, in denen sie von Gaddafi vergewaltigt wurde. Kaum war sie zurück, wurde sie mit einem seiner Leibwächter verheiratet. »Ihr Vater, ein Lehrer, hat es mir selbst erzählt und mich inständig gebeten, vorsichtig zu sein.«
Das Klingelzeichen für die nächste Stunde war ertönt, plötzlich flogen sie alle davon und baten mich, ihre Namen nicht zu nennen. Nichts ist einfach in Sirte. Noch sehr viele ihrer Bewohner trauern um den Verfall ihrer Stadt, sie sind von Bitterkeit, Hass und Pessimismus erfüllt und überzeugt davon, dass das neue Regime sie diese tiefverwurzelte Bindung an den einstigen Führer noch lange Zeit büßen lassen wird.
*
Sorayas Spuren nachzugehen war nicht einfach, so sehr fürchtete ich, die Aufmerksamkeit auf sie oder ihre Familie zu lenken, den Zorn ihrer Brüder neu zu beleben und ihre Zukunft in Libyen zu gefährden. Mehr als je musste ihr persönliches Schicksal geheim bleiben. Nur Hayat, ihre tunesische Cousine und heute noch einzige treue Verbündete, erwies sich als sehr entgegenkommend und als wohlwollende Zeugin aller Versuche von Soraya, zu fliehen, ein neues Leben zu beginnen und sich aus ihrem familiären Konflikt zu befreien. Eines der Mädchen zu treffen, die mit ihr in Bab al-Aziziya gelebt hatten, war folglich hoffnungslos. Die eine Amal ist inzwischen verheiratet und flehte mich an, sie zu vergessen. Die andere, Amal G., lebt zwischen Sex und Alkohol in der nostalgischen Erinnerung an ihren großen Helden und hasst Soraya dafür, dass sie ihn anklagen will. Ein Chauffeur aus Bab al-Aziziya und zwei Frauen, die beim Protokoll tätig gewesen waren, erinnerten sich im Gespräch, Soraya als flüchtige Erscheinung wahrgenommen zu haben. Das ist alles. Es hatten ja so wenige Leute Zugang zu jenem finsteren Kellergeschoss.
In Paris schließlich traf ich Adel, ihren tunesischen Freund, der mir einige Erklärungen dafür lieferte, warum ihr französischerAusbruchsversuch scheitern musste. Ich traf ihn in einem Café an der Porte d’Orléans. Ein stämmiger Mann mit nach hinten gekämmtem Haar über einem sanftmütigen Gesicht, der mit wehmütiger Erinnerung und Zärtlichkeit von Soraya sprach.
»Sie kam als zerstörtes, haltloses Menschenkind hier an, ohne die geringste Erfahrung, was Arbeit, Tageseinteilung, Disziplin, das Leben in der Gesellschaft angeht. Wie ein kleines Mädchen, das die Welt vollkommen verlernt hatte. Und wie ein Vögelchen, das zu fliegen versucht, aber immer wieder gegen die Fensterscheibe prallt.« Adel kümmerte sich um sie, wie er konnte. Er nahm sie bei sich auf, als klar wurde, dass sie nicht mehr bei Warda bleiben konnte; er bemühte sich um Arbeit für sie – besorgte ihr unter anderem ein kleines Praktikum bei einer Friseurin, das leider rasch ein Ende
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