Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
sie nicht in Bab al-Aziziya gelebt? Hatten sie nicht oft Uniform getragen? Hatten sie nicht enorme Vergünstigungen genossen, die dem Personenkreis um den Diktator vorbehalten waren? Ihre Identität als »Tochter von Gaddafi«, war sie nicht etwas fragwürdig? Der Schein sprach durchaus gegen sie, und die meisten von ihnen wollten das Risiko nicht eingehen, den Rebellen zu erklären, dass sie sich nicht freiwillig dafür entschieden hatten. Welches Mitleid konnten sie schon erwarten – von den Libyern als »Gaddafis Huren« beschimpft, für die man kein anderes Schicksal vorsah als das Gefängnis? Seit langem haben sie mit ihren Familien gebrochen, viele von ihnen versuchen heute in Tunesien, in Ägypten, in Beirut zu überleben, indem sie das einzige Metier ausüben, das sie beim Führer jemals gelernt haben und das ihnen Geld einbringt.
Andere waren schon vor der Revolution irgendwo in Libyen untergetaucht, wenn Gaddafi, ihrer überdrüssig geworden, sie per Befehl mit einem seiner Leibwächter verheiratete. Manchmal – weitaus seltener – wurden sie, nachdem sie zuvor im Ausland eine Operation zur Wiederherstellung des Jungfernhäutchens hatten vornehmen lassen, mit einem Cousin verheiratet, der nichts von ihrer Vergangenheit erfahren durfte. Aber viele sind auch ledig geblieben, ein Status, mit dem eine Frau in der libyschen Gesellschaft es besonders schwer hat, weil er Anlass zu jedweder Vermutung bietet. Da das Gesetz sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe verbietet, riskieren diese Frauen, sollte jemand erfahren – oder sieverdächtigen –, dass sie einen Geliebten haben, eine Gefängnisstrafe mit anschließender Verwahrung in einer staatlichen Besserungsanstalt, die sie nur verlassen dürfen, wenn ihre Familie sie wieder aufnimmt oder ein Ehemann sich findet. Welche Frau würde es in einer so stockkonservativen Gesellschaft wagen, öffentlich zuzugeben, dass sie eine sexuelle Beziehung zu Gaddafi hatte, und sei es unter Zwang? Es wäre gesellschaftlicher Selbstmord.
Das Risiko möglicher Vergeltungsmaßnahmen nicht einmal eingerechnet. Vergeltung durch Männer der eigenen Familie, deren Ehre verletzt ist. Durch Rebellen oder Eltern von »Märtyrern« der Revolution, die es nach Rache gelüstet. Durch Gefolgsleute von Gaddafi, denen sie in Bab al-Aziziya begegnet sein könnte und die zu Recht ihre Aussage fürchten.
Eine Frau, eine einzige Frau hat im April 2011, mitten in den Kämpfen, den Mut gefunden, darüber zu sprechen. Ganz feierlich. Und aus eigenem Antrieb. Ehemalige Leibwächterin von Gaddafi und zu der Zeit zweiundfünfzig Jahre alt, trat sie in Bengasi vor eine Fernsehkamera, verborgen hinter einer großen Brille und in die Fahne der Revolution gehüllt, und berichtete vom Unglück der Frauen, die wie sie in den siebziger Jahren den Fehler begangen hatten, sich im Glauben an die Aufrichtigkeit des Führers den revolutionären Kräften anzuschließen, und jahrelang von ihm verhöhnt und vergewaltigt worden waren. Sie sprach nicht, nein, sie schrie in die Kamera, ihr Gesicht nahm den ganzen Bildschirm ein, sie beschwor die Gaddafi-Anhänger, endlich die Augen zu öffnen, und rief die Libyer, die Araber, die ganze Welt auf, die vergewaltigten Frauen zu rächen. Ein solcher Auftritt im Fernsehenmitten in den Kämpfen hatte die Leute sprachlos gemacht. Da ließ jemand zum ersten Mal etwas über das wirkliche Leben der »Amazonen« verlauten. Jemand sprach das Wort »Vergewaltigung« aus und zeigte mit dem Finger direkt auf den Diktator. Runter mit den Masken!, befahl sie dem Regime. Schluss mit der Heuchelei! Wach auf, libysches Volk! Dann verschwand sie.
Ich habe sie erst im April 2012 erreichen können. Sie war noch genauso kämpferisch und gab mir einige Einblicke in ihr zerstörtes Leben. Sie erzählte mir von den Todesdrohungen, die auf ihren Auftritt im Fernsehen folgten und sie zwangen, nach Ägypten zu fliehen, von wo aus sie den libyschen Aufständischen und der NATO alle Informationen zukommen ließ, die sie besaß. Man hatte ihr nach dem Leben getrachtet, aber nichts, so schien es, konnte sie aufhalten. Sie hatte darum gebeten, an die Front gehen zu dürfen, und hatte in Sirte zu den Waffen gegriffen, wo sie bis zu den allerletzten Kämpfen dabei war. »Dort fühlte ich mich am sichersten.« Aber das machte sie nicht zur Heldin. Weit gefehlt. Der Skandal um ihr öffentliches Bekenntnis im Fernsehen hatte ein Erdbeben in ihrer Familie ausgelöst. Ihre Brüder, entehrt und von Schande
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