Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
bedeckt, hatten ihr Haus verkaufen müssen. Auch sie selbst wurde weiterhin mit Drohungen verfolgt. Gerade hatte sie wieder eine Botschaft erhalten: »Dein Name steht auf der schwarzen Liste. Bald werden wir dich umbringen. Allah, Muammar, Libyen.«
Auch eine Handvoll anderer Frauen hat sich – unter großer Angst – bereit gefunden, mir ihre Wahrheit anzuvertrauen. Einige habe ich persönlich getroffen, und sei es nur kurz. Andere, die sich nicht in der Lage fühlten, dem Blick einer Ausländerinstandzuhalten, wenn sie ihr eine Geschichte enthüllten, die sie selbst ihren liebsten Angehörigen niemals gestanden hatten, haben sie einer Libyerin erzählt, die mein Projekt unterstützte, und sie ausdrücklich ermächtigt, sie an mich weiterzugeben, weil sie von der Wichtigkeit eines Buches zu diesem Thema überzeugt waren. Jedoch unter der Bedingung, dass ihr Name nie genannt würde und ich niemals eine Einzelheit preisgäbe, durch die sie identifiziert werden könnten. »Ich würde mich sofort umbringen«, sagte die eine, »wenn ich wüsste, dass mein Mann oder meine Kinder eines Tages meine Vergangenheit entdecken könnten.«
Und ich weiß, dass sie es tun würde.
Hier also ihre Geschichten. So wie sie mir erzählt wurden. Ohne Verbindung untereinander, ohne Überleitung. Als reines Rohmaterial, das leider von keinem Tribunal je angehört werden wird.
Libya
Die Frau, die im Fernsehen aufgetreten ist, schlägt mir heute vor, sie Libya nennen. Es ist natürlich nicht ihr richtiger Name. Aber den zu nennen wäre selbstmörderisch, und sie möchte damit auch der Hoffnung Ausdruck geben, die sie in ein vom Joch Gaddafis befreites Land setzt. Sie hat über dreißig Jahre in unmittelbarer Nähe des Diktators verbracht. »Ein ganzes Leben!«, sagt sie nüchtern. »Mein Leben. Versaut.«
Sie geht noch aufs Gymnasium in Bengasi, als einige junge Mädchen, militante Mitglieder eines Revolutionskomitees und nur wenig älter als sie selbst, sie einladen, sich einem solchen Komitee anzuschließen. Es ist Ende der siebziger Jahre, das vor kurzem erschienene Grüne Buch des Bruders Oberstbetont in seinem dritten Kapitel die Rolle und die Rechte der Frau in der libyschen Gesellschaft, und eine breite Propaganda appelliert überall an die Mädchen, sich »von ihren Ketten zu befreien«. Alle sollen sie sich in den Dienst der Revolution stellen und die engsten Verbündeten ihres Führers werden. Die Kooptation durch ein Revolutionskomitee wird als Privileg hingestellt, als Eingangstor zur Elite des Landes, und Libya fühlt sich geschmeichelt, selbst wenn ihre Eltern etwas beunruhigt sind bei dem Gedanken. Im Grunde aber haben sie gar keine Wahl. »Eine Weigerung hätte sie ins Gefängnis gebracht.« Zahlreich sind die Versammlungen, exaltiert die Reden, gelegentlich erscheint Gaddafi und feuert die Begeisterung der Mädchen an, die zu allem bereit sind, um diesem Mann zu dienen, der im Ton eines Propheten zu ihnen spricht. Der zehnte Jahrestag seiner Revolution ist in Sicht, er will ihn zu einem grandiosen Ereignis machen, an dem in Bengasi zahlreiche Staatsoberhäupter teilnehmen werden. Und die Frauen an den Waffen werden beweisen, dass sie die Speerspitze der schönsten aller Revolutionen sind.
Libya verlässt die Schule, engagiert sich voll und ganz im Komitee, trainiert den Gleichschritt und lernt Raketen abschießen. Gaddafi hat recht, denkt sie, wenn er auf die Frauen setzt und sie lehrt, die Tabus zu brechen, auch wenn er sie damit in Widerspruch zu ihren Eltern bringt. Zum Teufel mit den Fesseln der Tradition! Die Freiheit erzwingt man sich eben! Und sie ist begeistert, nicht mehr bei ihrer Familie zu schlafen, sondern zusammen mit ihren Gefährtinnen im Trainingszentrum. Am Abend des 1. September 1979 und der großen Parade, die von allen Fernsehkanälen übertragen wird, teilt man ihnen mit, dass der Oberst sie zu begrüßen wünscht. Entzückt begibt sich ein Dutzend Mädchen in seine Residenz,wo er sich gewinnend und charmant gibt, bevor er sich in sein Apartment zurückzieht. Die Frauen vom Komitee, die die kleine Gruppe der Mädchen begleiten, fordern daraufhin eine von ihnen auf, zu ihm zu gehen. Sie kleiden sie in ein traditionelles Gewand und geben ihr tausend Ratschläge mit auf den Weg, wie sie ihm schmeicheln kann, indem sie seine Revolution preist. Hochgestimmt betritt die Fünfzehnjährige sein Apartment, niedergeschmettert kommt sie wieder heraus, Blut zwischen den Schenkeln. Die Gruppe der jungen
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