Niemand hört mein Schreien: Gefangen im Palast Gaddafis (German Edition)
waren also mitgeschnitten worden.
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Mansur Dao
Die einzigen verfügbaren Bilder von ihm stammen vom 20. Oktober 2011, als er zusammen mit Muammar al-Gaddafi gefasst wurde. Ein kleines Video, das Rebellen in der chaotischen Situation mit dem Handy aufzeichneten, zeigt einen verstörten Mann mit wirrem Haar und ungepflegtem Bart und einer Verletzung unter dem rechten Auge, hervorgerufen durch Bombensplitter. Seine aussichtslose Flucht mit dem libyschen Führer, dessen gefürchteter Sicherheitschef er war, endete in einem Blutbad vor den Toren der Wüste. Was man sah, war das schreckliche Bild eines Besiegten.
Er war bis zum Ende in der Nähe des libyschen Diktators geblieben, hatte, als die Aufständischen Tripolis besetzten, mit ihm überstürzt Bab al-Aziziya verlassen, um nach Bani Walid zu fahren, wo Gaddafi Abschied von seiner Familie nahm. Von dort hasteten sie weiter in den Westen Richtung Sirte, versteckten sich in einfachen Häusern, wo ihnen, umzingelt von den Rebellen, bald alle Mittel, Strom und Nahrung ausgingen. Schließlich unternahmen sie im Morgengrauen den ultimativen Fluchtversuch, der sofort von den Schüssen der NATO vereitelt wurde. Im Gefolge der Getreuen war er einer der letzten Überlebenden. Und mit Saif al-Islam, einem Sohn Gaddafis, war er der wichtigste Gefangene, den das neue Regime gestellt hatte. Sein Name stand für den Schrecken, der über Jahrzehnte aufrechterhalten worden war. Und in jüngerer Vergangenheit für die Gräueltaten – Vergewaltigungen, Folter, Hinrichtungen –, die in seinem Land verübt worden waren, um die Revolution in den Griff zu bekommen. GanzLibyen wartete auf die Erklärungen dieses Mannes. Doch Mansur Dao schwieg. Das zumindest sagte mir Ibrahim Beitulmal, Mitglied des Militärrates von Misrata und Verantwortlicher für die Militärgefangenen, als er mir die Erlaubnis erteilte, den Häftling zu treffen.
Am Samstag, dem 10. März 2012, betrat Mansur Dao selbstsicher und sichtlich erholt – in einem khakifarbenen Blouson und mit einer Wollmütze auf dem Kopf – den großen Versammlungsraum eines Gebäudes der Nationalarmee in Misrata. Sein grauer Bart war kurzgeschoren, auf seinen Lippen lag ein ironisches Lächeln. Er hatte dem Interview zugestimmt, ohne zu wissen, um welches Thema es gehen würde. Vielleicht sah er darin eine angenehme Ablenkung von seinen einsamen Tagen. »Ich war vier Mal in Frankreich«, eröffnete er das Gespräch. »Und es war mir ein großes Vergnügen.« Schön, doch wir trafen uns hier nicht, um höflich zu plaudern. Ich hätte über ein Thema recherchiert, das als Tabu gelte, erwiderte ich. Es gehe um die sexuellen Verbrechen des Oberst Gaddafi, und ich hoffe, dass er mir sagen würde, was er darüber wusste.
»Nichts«, antwortete er. »Ich wusste nichts. Als Mitglied seiner Familie war ich ihm zu Respekt verpflichtet. Es stand also völlig außer Frage, dieses Thema anzusprechen. Im Übrigen habe ich mir verboten, genauer hinzusehen. Mich von diesen Dingen fernzuhalten war das beste Mittel, um den Respekt vor mir selbst zu erhalten. Ich habe mich geschützt.«
»Dennoch wussten Sie, dass Gaddafi sexuelle Gewalt gegen Hunderte junger Menschen, junger Frauen anwendete?«
»Ich leugne es weder, noch bestätige ich es. Jeder hat ein Recht auf Privatsphäre.«
»Privatsphäre? Kann man von Privatsphäre sprechen, wenn es um sexuelle Beziehungen geht, die unter Gewaltanwendung stattfanden, wenn es dabei Beihilfe von vielen Seiten gab und staatliche Einrichtungen ihren Beitrag leisten mussten?«
»Es gibt Leute, die auf dem Laufenden waren. Ich nicht.«
»Wussten Sie, dass junge Mädchen im Kellergeschoss seiner Residenz gefangen gehalten wurden?«
»Ich schwöre, dass ich niemals einen Schritt in dieses Kellergeschoss getan habe! Ich bin Major, ich gehöre zu den ranghöchsten Armeeangehörigen! Ich habe in Moskau über die militärische Führung promoviert. Wenn ich eine Kaserne betrete, zittern die Leute vor Angst. Ich habe immer gewusst, wie ich mir Respekt verschaffe. Und das habe ich besonders dadurch, dass ich mich von alldem ferngehalten habe!«
»Alldem«? Was verstand er darunter? Er schien sich plötzlich unwohl zu fühlen. Zweifellos hatte er erwartet, mit Fragen zum Krieg konfrontiert zu werden – und ihnen geschickt ausweichen zu müssen –, sich über Waffen, Brigaden und Söldner zu äußern. Sicherlich hatte er nicht damit gerechnet, zu den Frauen befragt zu werden. Wir befanden uns auf spiegelglattem
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