Niemand ist eine Insel (German Edition)
weiß es, ich habe nur nie darüber geredet. Ich habe dich verstehen können. Jetzt ist ein Wunder geschehen: Solange Babs der gesunde Liebling der Welt war, hast du sie immer verabscheut. Sie hat dich immer geliebt. Nun, da Babs krank und hilflos und durchaus nicht mehr der Liebling der Welt ist, nun, da du die ganze Verantwortung für sie übernommen hast, nun …« Sie brach ab.
Ich sagte leise: »Das ist richtig. Es gibt zwei Wesen auf dieser Welt, die ich liebe. Babs und …« Ich hatte sie berührt. Sie war zurückgeschreckt.
»Da ist Sylvia«, sagte Ruth.
»Ja«, sagte ich. »Ja, ja, ja. Und wie soll das weitergehen? Wie bisher? Wir sind nur Menschen!«
Sie schwieg und sah zu Babs, während ich ein epileptisches Kind fütterte.
»Sie wischt Alois dauernd mit der Serviette den Mund ab. Nach jedem Bissen«, sagte Ruth. »Wenn ich denke, in welchem Zustand sie hierherkam …«
»Nicht Babs«, sagte ich heftig. »Wie das weitergehen soll mit uns, habe ich gefragt!«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Es wird weitergehen. Es wird gut werden.«
»Das glaubst du?«
»Das glaube ich fest«, sagte Ruth.
Der 24. August 1972 war ein Donnerstag. Jeden Donnerstag kam Ruth hier zur Sonderschule heraus, um die Kinder zu untersuchen, neue Medikamente zu verschreiben, neue therapeutische Maßnahmen zu besprechen. In den Lehr- und Spielzimmern hingen für jedes Kind Zettel mit den von Ruth zusammengestellten Mitteln, die es nehmen mußte. Und jeder Donnerstag war ein Festtag für mich.
»Oh, Phil«, sagte Ruth, »ich habe einen Journalisten aus Nürnberg mitgebracht. Er will über diese Schule schreiben. Ich habe ihm gesagt, daß du hier der Schulsprecher, der PR-Mann, eben derjenige bist, an den er sich wenden muß. Wir brauchen jede nur mögliche Art von Unterstützung – und wenn es ein Zeitungsartikel ist! Viele Menschen werden ihn lesen. Du mußt mit dem Mann reden. Er ist voll guten Willens, und ich bitte dich …«
Rektor Hallein kam schnell auf uns zu.
»Herr Norton?«
»Ja.«
»Telefongespräch. Madrid!«
5
D er Telefonhörer lag auf Rektor Halleins Schreibtisch.
»Hier ist Philip Norton!«
»Wölfchen! Mein über alles geliebtes Wölfchen! Wie geht es meiner kleinen Babs heute?«
»Von wo sprichst du, Hexlein?«
»Vom CASTELLANA HILTON. Ich habe heute drehfrei. Ich konnte einfach nicht bis zu deinem Abendanruf warten.«
Ein Luxusappartement im CASTELLANA HILTON in Madrid – das Büro des Rektors der ›Sonderschule Heroldsheid‹ nahe Nürnberg. Es roch ein wenig nach Chlor hier, nach Chlor und anderen Dingen. Der große Raum mit den Klos für Zwerge befand sich in der Nähe. Und es sind doch zwei Welten, dachte ich. Und ich bin Sylvias Angestellter, sonst nichts.
»Gut geht es Babs, Hexlein. Sie sind alle gerade beim Mittagessen.«
»Die aggressive Phase ist ganz abgeklungen?«
»Ganz und gar«, sagte ich und dachte: Jetzt können wir auf die nächste warten.
»Ach, ist das wunderbar! Wir haben nur noch etwas mehr als zwei Monate hier zu drehen, Wölfchen, dann geht es in die Pyrenäen. Aber bald verlange ich zwei Tage frei und komme und sehe mir meine Babs an – nach all der Zeit. Der Gedanke an dieses Wiedersehen hält mich aufrecht, immerzu denke ich daran, sonst wäre ich längst zusammengebrochen. Ich komme zu Babs! Das geht doch, wie?«
»Natürlich, Hexlein.« Natürlich ging das niemals. »Selbstverständlich …«
»Ihre Augen?«
»Bessern sich immer mehr, Hexlein.« Lüge.
»Gott, ich danke dir. Und … und das Hinken?«
»Täglich Gymnastik, Hexlein. Das Hinken geht auch zurück.« Lüge.
»Und …«
Sie fragte weiter.
Ich log weiter.
Ich log jeden Tag. Babs war nach wie vor schwer hirngeschädigt.
»Alles wird gut, alles wird gut, wenn es auch lange dauert. Aber es wird alles gut …«
»Ja, hoffentlich, Hexlein.«
»Sicherlich! Sag nicht hoffentlich! Wann kommst du wieder nach Madrid?«
»Nächste Woche.«
»Ach …«
»Was ist los?«
»Du kannst nicht früher kommen, ich weiß. Hier sagen wir, daß du in ganz Spanien verhandelst, herumfliegst, in Paris arbeitest, in Los Angeles. Bob macht seine Sache übrigens glänzend! Alle glauben die Geschichte, daß er dein Assistent ist, weil du einfach so irre viel zu tun hast mit diesem Film und mit meinem nächsten Film … Aber du mußt wenigstens einmal in der Woche zwei Tage hier sein … sonst schöpft doch noch jemand Verdacht. Bisher geht alles phantastisch. Hast du die neue Ausgabe von
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