Niemand ist eine Insel (German Edition)
Doppelleben! Immer wieder mußte ich auch weit verreisen – meistens nach Madrid. Die Arbeiten an dem Film DER KREIDEKREIS waren in vollem Gang. Ich hatte zwei Frauen. Eine, von der ich lebte. Eine, die ich liebte. Und ich hatte ein Kind. Gewiß, meine Entwicklung war unglaubwürdig, um nicht zu sagen, unanständig paradox gewesen. Ein Playboy hat eine Playboy-Philosophie, nicht wahr? Ich hatte meine Playboy-Philosophie ein Leben lang gehabt. Und nun …
Wenn ich aus dem Fenster meines kleinen Büros blickte – und das tat ich immer wieder –, konnte ich Babs sehen: auf der Wiese hinter dem Haus. Mit ihren beiden Freunden. Ihre beiden Freunde waren das kleine Mongoloidenmädchen Jackie, das uns, im Mercedes des Vaters festgeschnallt neben dem Chauffeur, überholt hatte an jenem ersten Morgen, da wir zur Schule fuhren – die kleine Jackie, so zart, so hübsch. Der Junge war jener Gelähmte, der mit uns an diesem ersten Morgen im Bus gefahren und immer wieder von seinem Sitz geglitten war – Alois hieß er, der Vater war ein kleiner Angestellter in der kleinen Filiale einer großen Bank. Alois, dreizehn Jahre alt, würde niemals mehr gesund werden, das stand fest, das wußten seine Eltern. Er war unheilbar.
Babs, mit ihrer Schielbrille, immer noch hinkend, schob Alois in seinem Rollstuhl über den Rasen. Jackie stützte sie dabei, denn Babs war sehr unsicher auf den Beinen. Jackie konnte richtig gehen.
Ein Kind half dem anderen. Ich hörte die drei lachen. Und es war Sommer, tiefer, tiefer Sommer. Heiß war es, heiß, so heiß. Ich sah immer wieder zu den drei Kindern.
Dann tippte ich wieder. Dabei fluchte ich wieder laut: »Himmelherrgott, diese elende Mistmaschine!«
1. Herr Walter Kleinheit, Nürnberg, Salomestraße 234 – fein, das h hoch, das r hoch, den Buchstabenhebel mit den Fingern rausgezogen – hat der »Sonderschule Heroldsheid« am 20. August 1972 den Betrag von DM 1200,– (in Worten: eintausendzweihundert Deutsche Mark) in Fortsetzung der Obsorge für sein Patenkind Heidi Metzler zugewendet …
»Mistmaschine! Alles wird dreckig!« Ich fluchte dauernd.
Hops! Jetzt wäre Babs fast gestürzt, weil sie den Rollstuhl zu schnell schieben wollte. Jackie hatte ein Unglück verhindert. Ich fühlte mein Herz klopfen.
Merkwürdig. Herzklopfen …
Ich drehte das Formular durch die Maschine. Die nächsten Zeilen waren zum Glück vorgedruckt. Trotzdem. Ich tobte immer lauter weiter.
»Ich verlange eine gute Maschine. Wie sehen denn diese Briefe, die wichtigsten, die wir verschicken, aus?«
Das mußte Hallein einsehen. Würde er auch. Er sah alles ein, was vernünftig war. In seinem Zimmer waren alle Wände bedeckt von bunten Bildern, welche Kinder gemalt hatten. Auf seinem Schreibtisch stand ein Rahmen. Darin, auf einem Bogen Büttenpapier, in Druckschrift dies:
WENN DER MENSCH SO VIEL VERNUNFT
WIE VERSTAND HÄTTE, WÄRE ALLES
VIEL EINFACHER.
Guter Satz. Ausgesprochen von Nobelpreisträger Professor Dr. Linus Pauling. Das allerdings war einer der drei Nobelpreisträger, mein Herr Richter, nicht wahr, die gefordert hatten, daß die aktive Euthanasie bei allen Fällen von unheilbar kranken oder geisteskranken Menschen, auch Kindern, endlich zum Gesetz erhoben würde. Bißchen schizophren, daß ein Nobelpreisträger so etwas forderte. Ebenso schizophren, daß Rektor Hallein sich den Ausspruch drucken und rahmen ließ und auf seinen Schreibtisch stellte, nicht wahr? Aber es ist eben eine schizophrene Welt, in der wir leben, das hatte ich in den letzten Monaten erkannt. Weiter!
Herr Walter Kleinheit aus der Salomestraße in Nürnberg hatte seit zwei Jahren die Patenschaft für das spastische Kind Heidi Metzler (25) übernommen. Ich hatte gesehen, wie zwei Kriegsdienstverweigerer Heidi vor einer Stunde aus der Turnhalle, die hinter der Schule liegt, zurücktrugen. Sie kann sich nicht selbst bewegen. In der Turnhalle hatte Monika, eine der beiden Krankengymnastinnen, wie jeden Tag, mit Heidi auf dem Spastiker-Ball gearbeitet. Heidi war schon seit vier Jahren hier. Seit vier Jahren arbeitete man mit ihr auf dem Spastiker-Ball. Vor drei Jahren hatte es so ausgesehen, als werde sich ihr Zustand etwas bessern. Das war aber ein Irrtum gewesen. Es hatte sich seit vier Jahren nicht das geringste gebessert. Man mußte weiter täglich mit Heidi arbeiten. Vielleicht, daß sich in den nächsten vier Jahren etwas besserte. Oder in sechs. Vielleicht niemals.
Ich war unkonzentriert heute. So viel Post
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