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Niemand ist eine Insel (German Edition)

Niemand ist eine Insel (German Edition)

Titel: Niemand ist eine Insel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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aushalten zu können. Dann hatte ich gesehen, daß alle anderen Erwachsenen es aushielten, geduldig, freundlich, noch einmal geduldig. Ich war so oft verzweifelt gewesen, als einziger unter allen Erwachsenen. Die Erwachsenen hier bestanden geradezu aus Geduld. Sie wußten, was ich inzwischen auch gelernt hatte: Auf jeden Fortschritt folgt ein Rückfall. Kam ein Fortschritt, freuten sich natürlich alle, aber alle – und jetzt auch ich – wußten: Irgendwann kam wieder eine ›schlechte Zeit‹.
    »Bouletten«, sagte Babs. Sie sprach immer noch sehr schlecht. »Puddings. Schokolade. Himbeer. Vanille.«
    »Was nimmst du?«
    »Alle drei«, sagte Babs. Ich hatte sie hochgehoben, aber sie machte Strampelbewegungen.
    »Was ist los?«
    »Muß zurück. Alois helfen.« Sie hinkte fort. Alois, das Rollstuhlkind, der gelähmte Junge. Seit vielen Wochen, mit Unterbrechungen, wenn Babs ihre ›schlechten Zeiten‹ hatte, fütterten Jackie und Babs den Sohn jenes kleinen Angestellten in der kleinen Filiale einer großen Bank. Sie taten es stehend, liebevoll und vorsichtig. Sie lächelten Alois die ganze Zeit an dabei, und Alois lächelte, mampfte, versuchte zu schlucken, schluckte. Vor ein paar Monaten hatte auch Babs noch gefüttert werden müssen. Vor ein paar Monaten …
    Ich kam mir in diesem Heroldsheid oft vor wie ein Gulliver im Reich der Zwerge. Damit Sie sich eine Vorstellung machen können, mein Herr Richter: Hier war der größte Teil des Hauses wirklich wie für Zwerge eingerichtet, nämlich für die Kinder. Mit Ausnahme der Plätze für die schon herangewachsenen Kranken sah auch dieser Speisesaal wie ein Speisesaal für Zwerge aus. Niedere Tische, niedere Stühle, kleines Besteck.
    Aber nicht nur im Speisesaal war das so – es war im Gang mit den Leisten und Haken für die Kleiderablage nicht anders. Die Leisten waren sehr weit unten. Im Frühling, als ich hier angekommen war, hatten viele bunte Mäntelchen, Anoraks und Mützen auf diesen Leisten gehangen. Die meisten Türen besaßen keine Klinken. Die Klinken aber, die es gab, waren sehr niedrig angebracht. Die Becken in den Waschräumen waren klein und niedriger als sonst an die Wand geschraubt, damit die Kinder auch an sie herankamen – allein oder mit fremder Hilfe. Dasselbe galt für die Klos. Auch hier alles niedriger und kleiner. Dasselbe galt für die Schlafsäle. Nach dem Essen wurden alle Kinder ins Bett gelegt und schliefen eineinhalb bis zwei Stunden. Der Vormittag hatte sie völlig erschöpft, sie schliefen – mit Ausnahmen – sofort ein in winzigen Betten, Betten ähnlich denen der Sieben Zwerge im Märchen. In den Unterrichtsräumen war alles so eingerichtet, daß die Kinder bequem sitzen und lernen konnten, daß sie alles, was sie selber holen sollten, auch in erreichbarer Höhe fanden. Die Tafeln an den Wänden waren sehr tief angebracht. Wo es nur ging, hatte man an den Türschwellen Schrägen befestigt, damit die Rollstuhlkinder es leichter hatten, weiterzukommen, wenn sie ihren Rollstuhl schon selbst bedienen konnten.
    Nach der Mittagsruhe war noch einmal für etwa zwei Stunden Unterricht, dann kamen die großen Busse vom Morgen und brachten die Kinder wieder nach Hause. Es gab ein einziges Kind, das dann mit mir hierblieb seit Anbeginn: Babs. Wir wohnten in einem sehr kleinen Haus, abseits der Schule am Waldrand. Da hatte bis zu unserem Eintreffen der Hauswart gewohnt, der auch Werkunterricht gab. Er war sofort in den Ort Heroldsheid übersiedelt und kam nun täglich mit einem Fiat, dem kleinsten Modell, und fuhr abends wieder heim. Der Rektor hatte ihn über meinen »Fall« aufgeklärt.
    »Ist doch selbstverständlich«, hatte der Hauswart gesagt. »Noch heute ziehe ich um. Mit meinen paar Klamotten.« In Heroldsheid hatte er eine Freundin, die werde ihn sofort aufnehmen, sagte er. Dieser Haus- und Werkmeister hieß Karl Wondra.
    Ich glaube, es gab niemanden hier, der die Kinder mehr liebte als Karl Wondra, und die Kinder liebten Karl Wondra, der alles, aber einfach alles konnte!

    »Du hast Babs geküßt …«
    Ich drehte mich um. Vor mir stand Ruth. Sie trug ein mit Blumen farbig bedrucktes Leinenkleid und streichelte leicht meinen Arm.
    »Ich habe euch beide beobachtet, und ich bin sehr glücklich, Phil, über das, was ich gesehen habe. Als alles anfing – im vorigen Jahr –, da hast du Babs gehaßt, sie eine elende Kröte genannt, mit deinem Schicksal gehadert, das dich zwang, für Babs zu sorgen – widersprich nicht, ich

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