Niemand ist eine Insel (German Edition)
gesprochen haben.«
»Hat er, ja.«
»Und?«
»Sie bleibt dabei. Sie hat Rettland erschossen. Sie weiß nicht, warum. Sie kann sich an überhaupt nichts erinnern.«
»Wie soll Nielsen eine solche Frau verteidigen?« fragte Ruth. Sie ging zum Fenster.
»Wo willst du hin?«
»Das große Licht ausknipsen.«
»Der Schalter ist bei der Tür!«
Sie lachte nur hilflos und ging den Weg zurück.
Ich sagte: »Krankhafter Bewußtseinszustand, hat Nielsen gesagt, er weiß es natürlich noch nicht genau. Ich glaube, er will sich auf den psychiatrischen Sachverständigen aus Erlangen, diesen Professor Eschenbach, stützen. Der hat Sylvia doch nach der Tat untersucht. Und angeblich von einer Bewußtseinsstörung gesprochen bei diesem Schock, von einem pathologischen Affekt … gibt es das?«
»Ja, das gibt es.«
»Und was geschieht da?«
»Die Bewußtseinsstörung«, sagte Ruth, »kann in solchen Fällen einen derartigen Grad erreichen, daß die Vorstellungstätigkeit vorübergehend ganz eingestellt ist oder daß unter dem Einfluß einer einzigen Vorstellung bei Ausschaltung aller Gegenmotive explosiv gehandelt wird. Von diagnostischer Wichtigkeit ist dabei, daß für die Zeit der Bewußtseinsstörung regelmäßig eine Amnesie besteht – totaler Ausfall des Erinnerungsvermögens. Hat Eschenbach eine Amnesie bestätigt?«
»Ja.«
»Dann«, sagte Ruth, »wird Nielsen bei einer Mandantin wie Sylvia, die ihn in keiner Weise anders unterstützt, nichts übrig bleiben, als auf den Paragraphen einundfünfzig, Absatz eins, hinzusteuern.«
»Also Unzurechnungsfähigkeit zur Zeit der Tat?«
»Ja. Unzurechnungsfähigkeit.«
»Und was wird jetzt aus Babs?«
»Ich habe dir doch gesagt, ich kümmere mich um alles. Mit dem Rektor und den anderen werden wir zurechtkommen.«
»Und wenn nicht, Ruth? Wenn etwas passiert? Wenn dieser Prozeß Monate der Vorbereitung braucht – und die braucht er –, und wenn er dann wochenlang dauert? Die werden doch wissen wollen, wo Babs ist!«
»Sicherlich.«
»Ja und? Und?«
»Du hast mir doch erzählt, daß die Filmgesellschaft in Amerika eine gesunde Babs vorzeigen kann – vermutlich irgendein anderes Kind, das Babs sehr, sehr ähnlich sieht.«
»Das ist richtig. Aber wenn das schiefgeht? Ach, egal: Und selbst wenn das gutgeht? Wenn alles gutgeht! Wenn Sylvia freigesprochen wird! Gintzburger und alle erklären, daß die Wahrheit über Babs und über Heroldsheid niemals herauskommen darf! Niemals! Hörst du? Das … das wäre geschäftsstörend. Das Ende vom Geschäft. Wie soll die Wahrheit aber geheim bleiben?«
»Indem wir alle zusammenhalten. Nielsen ist großartig.«
»Du verstehst mich nicht! Wenn die Wahrheit wirklich geheim bleibt, dann kann ich Babs doch nun, da ich hier als Philip Kaven erschienen bin, niemals mehr wiedersehen.«
57
»… und hier, meine Damen und Herren, darf ich Ihnen Joe Gintzburger vorstellen, den Präsidenten der Filmgesellschaft SEVEN STARS, in deren Auftrag Sylvia Morans Gesellschaft SYRAN-PRODUCTIONS den Film DER KREIDEKREIS hergestellt hat. Die fünf Herren, die hier mit ihm in dieser Barnische sitzen, sind Anwälte von SEVEN STARS. Kamen Sie alle gemeinsam nach Nürnberg, Mister Gintzburger?« fragte der Reporter des Ersten Deutschen Fernsehens. Scheinwerfer auf die Nische in der Bar des FRÄNKISCHEN HOFS. Sensation: Live-Reportage für die ARD aus dem FRÄNKISCHEN HOF. Live! Der Reporter hatte schon andere der hier Versammelten interviewt, auch mich.
Live!
Kameraleute, Beleuchter, Kabelträger. Die Bar war voller Menschen. Ich stand an der Theke. Neben mir saßen und standen Reporter und Fotografen, auf der Theke, auf dem Boden lagen Recorder, Tonbandgeräte, teuerste Kameras: Leicas, Rolleis, Hasselblads. Die Reporter – aus vielen Ländern – kümmerten sich nicht um das ARD-Interview. Hemdsärmelig, korrekt gekleidet oder in Lederjacken saßen sie da. Tranken. Ein Amerikaner namens Hopkins hatte Geburtstag. Er war am betrunkensten. Die Männer um ihn knobelten mit Würfeln. Ich sah, daß Hopkins, wenn die Reihe an ihm war, den Becher, bevor er ihn schüttelte, immer an der Hose über seiner Garnitur rieb. Das brachte Glück, glaubte er zweifellos. Viele glauben das. Bracken und ich auch.
In einer zweiten Bar spielte eine Combo. Ich lehnte mit dem Rücken zur Theke und hörte dem Interview zu.
»Natürlich nicht … Die Herren sind aus Los Angeles gekommen, ich komme aus Berlin, wo wir den neuen Film von Sylvia Moran vorbereitet
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