Niemand kennt mich so wie du
an der Rezeption Bescheid gegeben, dass er kommen würde. Die Dame am Empfang gab ihm eine Zweitkarte zu ihrem Zimmer. Er ließ sich aufs Bett fallen und rief bei Eve zu Hause an. Lily ging ans Telefon. Er fragte, wie es ihr ginge, und sie sagte: «Gut.» Sie redeten fast eine halbe Stunde lang, ohne dass er ihr erzählte, weshalb er nach Paris geflogen war, und sie fragte ihn auch nicht danach. Ich wünschte, du wärst hier bei mir, Lily. Mein Gott, ich bin so ein Riesenarschloch.
Als Eve an dem Morgen, als ihr Bruder nach Paris flog, erwachte, hatte ihre beste Freundin Lily bereits Frühstück gemacht. Sie saßen zusammen, und es war genau wie früher. Sie redeten nicht und genossen die Stille, die sich ausbreiten darf, wenn zwei Menschen sich gut genug kennen, um miteinander schweigen zu können. Als sie mit dem Frühstück fertig waren, bestellte Eve sich telefonisch ein Taxi zum Krankenhaus. Lily wusste nicht genau, was sie davon halten sollte.
«Geht es dir gut?», wollte sie wissen.
«Sehr gut.»
«Warum fährst du dann ins Krankenhaus?»
«Ich habe eine Verabredung.»
«Mit wem?», fragte Lily.
«Spielt das eine Rolle?»
Lily wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, aber sie kannte Eve gut genug, um zu wissen, dass sie etwas im Schilde führte.
«Möchtest du, dass ich dich begleite?»
«Nein danke.»
«Okay», sagte Lily. «Ich werde keine Fragen stellen.»
«Das ist auch besser so.»
Wenig später bekam Eve einen Anruf von dem Lagerhaus, in dem das Mobiliar aus ihrem Elternhaus untergebracht war. Sie bat darum, die Möbel wieder in das Haus zurückzubringen. Als das Telefonat beendet war, rief sie nach Lily.
«So. Das wäre geklärt», sagte sie.
«Was ist geklärt?», rief Lily und stieg die Wendeltreppe vom Arbeitszimmer herunter, wo sie sich seit zwanzig Minuten mit den schmutzigen Fußbodenleisten beschäftigt hatte, die in ihren Augen eine Zumutung waren. Schmutz war für Lily unerträglich. Außerdem brauchte sie dringend Ablenkung.
Warum zum Teufel bezahle ich eigentlich eine Putzfrau? , dachte Eve.
«Wir haben das Haus wieder vom Markt genommen. Ende der Woche kommen die Möbel zurück. Das Haus ist wirklich gar nicht so übel, weil Dad es Ende der Neunziger komplett renoviert hat. Es gehört dir, solange du es brauchst.»
«Euer Haus?» Lily stand der Mund offen.
«Das Haus, in dem wir aufgewachsen sind.»
«Euer Haus!»
«Unser Haus.»
«Und Clooney?»
«Er hat in diesem Haus unsere Eltern sterben sehen, das weißt du. Er will das Geld aus dem Hausverkauf nicht haben, ich brauche es nicht, und du bist Teil von all dem, was gut in diesem Haus gewesen ist. Ich glaube, Danny wäre glücklich und stolz.»
Lily fing an zu weinen. «Ich war in meinem ganzen Leben nirgendwo so glücklich wie in diesem Haus.»
«Ich weiß.»
«Bist du dir sicher? Sobald ich wieder arbeite, zahle ich Miete.»
Eve legte keinen Wert auf Miete und Clooney genauso wenig, aber sie wusste, dass Lily das Bedürfnis hatte, ihren Beitrag zu leisten, weil Lily nun mal so war.
«Du kannst es gerne als Wohnen auf Probe betrachten. Falls du dich in dem Haus wohlfühlst und glaubst, dort ein glückliches Leben führen zu können, kaufst du es.»
«Es wird eine Ewigkeit dauern, bis ich mir ein Haus wie das leisten kann», sagte Lily.
«Wir machen dir einen guten Preis, und deine Scheidungsvereinbarung wird das locker hergeben.»
«Das kann Jahre dauern, vor allem wenn Declan sich querstellt, was er mit Sicherheit tun wird.»
«Vielleicht, vielleicht aber auch nicht», sagte Eve. «Wie dem auch sei. Wir können warten.»
«Das ist ein Almosen.»
«Das ist Freundschaft.»
«Es ist zu viel.»
«Quatsch! Es ist genau richtig.»
Eves Taxifahrer stammte aus London und hatte England verlassen, weil er sich in ein Mädchen aus Dublin verliebt hatte. Der Verdienst war zwar schlechter, aber er behauptete, die Lebensqualität sei besser. Er wohne in der Nähe der Stadt und trotz der Vielzahl an Taxis auf der Straße gehe es ihm gut, weil er die Fähigkeit habe, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, erzählte er ihr. Sie fragte nicht, was er damit meinte, sondern akzeptierte seine Aussage, weil sie keine Lust hatte, sich weiter auf das Thema einzulassen. Er fuhr vor das Hauptportal des Krankenhauses und war Gentleman genug, ihr aus dem Wagen zu helfen. Sie richtete sich auf, bezahlte und stützte sich auf beide Krücken, den Blick fest auf die Eingangstür geheftet. Sie betrachtete einen
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