Niemand lebt von seinen Träumen
12.‹
Ob er mir ein Visum besorgen kann, zuckte es durch Susannes Kopf. Ob er mich auf ein Schiff zu bringen vermag, vielleicht sogar ohne Papiere? Er muß doch alle Reeder kennen und alle Kapitäne. Es könnte doch für ihn ein leichtes sein, mich irgendwo auf solch einem Kahn zu verstecken …
Sie sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. An dem Ecktisch waren die drei Matrosen mittlerweile in einen tiefen Schlaf gefallen – der schmuddelige Kellner stand hinter der Theke gegen die Kaffeemaschine gelehnt und las in einem Magazin. Mit schnellen Fingern riß sie die Seite aus dem Zeitungshalter und stopfte das Blatt in ihre Hosentasche. Dann stand sie auf, ging zur Theke, bezahlte und verließ schnellen Schrittes das kleine Café.
Auf der Straße atmete sie auf. Der erste Streich. Ging ja ganz gut! Kleiner Diebstahl am Vormittag. Sachbeschädigung. Wenn Frank das wüßte. Er würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber in der Liebe sind nun mal alle Mittel erlaubt. Susanne kräuselte die Lippen, was ihr allerliebst stand und ihr in Studentenkreisen den Spitznamen ›Kaninchen‹ eingetragen hatte. Fest nahm sie ihren Pappkoffer in die Hand und ging mit langen, elastischen Schritten wieder dem Hafen zu.
Nordkai 12, dachte sie. Franz Sabelmann.
Hoffentlich ist es nicht zu voll bei ihm. Und hoffentlich will er keinen Vorschuß! Man muß ihm ein wenig schöne Augen machen, dann ist er vielleicht so nett und wartet, bis ich ihm aus Amerika Kaffee und Zigaretten für seine Hilfe schicken kann …
Von Matrose zu Matrose fragte sie sich durch.
Nordkai 12. Links um die Ecke, wo der große Kran steht, dann geradeaus. An Becken 4 vorbei. Ja richtig. Noch zweihundert Meter, dann wieder rechts, vorbei am Lagerhaus der Eremitengesellschaft, dann noch zweihundert Meter. Bei dem Gleisdreieck.
Endlich stand sie vor dem Haus, Nordkai 12. Ein grauer, heruntergekommener Kasten mit verdreckten Fenstern. Eine Tür, die nie abgewaschen worden war. Ein Flur, der nach kaltem Kohl stank. An den Treppenwänden ausgeschnittene Magazinbilder. Das Geländer klebrig vor Dreck.
Susanne überwand den anfänglichen Ekel und ging die Treppen hinauf. ›Zweiter Stock links‹ stand unten an der Tür neben dem Namen Sabelmann. ›Sprechstunde von zehn bis zwölf Uhr. Außer Samstag nachmittag‹. Wie bei einem Arzt.
Susanne blieb vor der Tür stehen, an der Sabelmanns Schild angebracht war. Das Herz schlug ihr bis zum Hals – sie fühlte, wie das Blut in ihren Ohren rauschte.
Ich stehe vor meinem Schicksal, dachte sie. Sagt er ja, kann ich die ganze Welt umarmen, sagt er nein, muß ich sehen, wie ich allein weiterkomme. Nur eines gibt es nicht: Zurück nach Köln! Was auch kommen mag – ich muß nach Amerika!
Als sie mit spitzem Finger auf die alte Klingel drückte, schrillte der Ton aufreizend durch das ganze Haus. Sie nahm den Finger von der Schelle und wartete.
Ein schlurfender Schritt näherte sich der Tür.
5
Rechtsanwalt Dr. Percy Yenkins, der zweite Mann von Frank Barrons Mutter, bewohnte eine schöne Villa in einem Vorort von Cleveland. Sie lag direkt am Erie-See mit einem wundervollen Blick über das glatte, kaum bewegte Wasser, hatte einen schönen Bootssteg inmitten eines Schilfstreifens und lag von hohen Bäumen und dichten Blütensträuchern verborgen, als habe sich hier ein reicher Sonderling von allem zurückgezogen, was leben heißt, um nur der Stille und Schönheit der Landschaft zu frönen.
Dabei war Percy Yenkins alles andere als ein Sonderling. Er war sehr sportlich, unternehmungslustig, ein typischer Wohlstandsamerikaner mit schwerem Wagen, einem Landhaus in Miami und der Idee, fehlerhafte Gesetze durch Vernunft zu ersetzen. Er konnte sich alles, was er wünschte, leisten, weil er die vor Jahrzehnten bereits von seinem Vater gegründete gutgehende Praxis geerbt und mit viel Fleiß und Zielstrebigkeit weiter ausgebaut hatte. So schwang er sich im Laufe der vielen Jahre seiner Praxis zum Rechtsberater großer Firmen von Cleveland, Akron, Toledo und Darton auf. Vor längerer Zeit hatte er sogar in New York ein Zweigbüro eröffnet. Er verdiente mit seinem Beruf und durch seine anerkannten Qualitäten relativ viel Geld und konnte sich auch den Luxus leisten, ab und zu einen Fall zu übernehmen, bei dem er zusetzte, weil er mehr Arbeit erforderte, als er finanziell einbrachte. Er tat dies dann aus Sportsgeist, aus bloßem Interesse an der Sache, aus dem Willen heraus, sich an Dingen zu versuchen, denen
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