Niemand
Nina die Grenze übertreten hatte.
Der Dritte Mann hatte Niemand Sonst längst Bericht erstattet, es sei denn, er hatte die Seiten gewechselt.
Sie musste Niemand beschützen. Niemand und Nina. Sie waren beide in Gefahr. Aber wie sollte eine Abrissbirnenkatze den Unsichtbaren und das Mädchen vor der neu geschürten Gier eines Niemand Sonst behüten?
Hastig rannte sie hinter den beiden her. Die Abrissbirnenkatze, die erst seit Kurzem Lilly hieß, durfte Niemand und Nina nicht verlieren.
28.
»Hast du verstanden, worum ich dich gebeten habe?«, flüsterte Niemand, griff nach Ninas Hand und zog sie näher zu sich, während sie nebeneinander hergingen.
Nina hatte ihn verstanden, aber wie sollte sie ihm einen Namen geben? Selbst ihr Kuschelhund, den sie vor einiger Zeit aus ihrem Bett verbannt hatte, hieß nur Hund. Auch ihre Puppen, mit denen sie früher gespielt hatte, waren namenlos geblieben.
»Du kannst das, du hast auch Lilly einen Namen gegeben.«
Lilly. Dieser Name war mit einem Mal in ihrem Kopf gewesen. Aber jetzt, unter Druck und auf die Schnelle, wollte ihr nichts einfallen.
»Ich weiß doch gar nicht, welchen Namen du haben möchtest.«
»Einen, der schön klingt und freundlich, einen Namen für einen Herrscher, einen gütigen. Es soll ein Name sein, der Mut und Stärke beweist. Und einer, der dir gefällt!«
Nina spürte, wie kleine Feuerknospen auf ihren Wangen erblühten. Sie presste die Lippen aufeinander.
Wie schön! Wie peinlich! Rasch änderte sie das Thema und fragte, was der Nikolaus gemeint habe, als er wissen wollte, was Niemand passiert sei, nachdem sein Vater ihn hatte holen lassen. Doch Nina bereute die Frage schon, noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte. Aber nun war es zu spät. Niemand schwieg, und obwohl sie sein Gesicht nicht sah, spürte sie die von ihm ausgehende Beklommenheit.
»Du musst es nicht sagen, wenn du nicht willst.«
»Danke.« Und nach einer kurzen Pause. »Was ist nun mit meinem Namen?«
Nina ahnte, dass Niemand sie weiter bedrängen würde, also musste sie Zeit schinden.
»So schnell geht das nicht.«
»Gut, ich warte.«
Nina drehte sich zu Lilly und hoffte auf Hilfe. Die Katze war stehen geblieben, ihr Maul klaffte auf, ihre Nackenhaare sträubten und die feinen Härchen an der Schnauze kräuselten sich. Die Pupillen hatten sich stark geweitet, von der bernsteinfarbigen Iris blieb nur ein schmaler Rand übrig. Sie starrte zwischen Nina und Niemand hindurch. Nina folgte ihrem Blick und erkannte weit entfernt ein rotes Schimmern, das den gesamten Horizont einnahm und sich wie Lava voranschob. Der staubige braune Lehmweg färbte sich dunkelrot. Das Grün der Wiesen verwandelte sich in Lila. Die Blumen starben unter der roten Last, die sich über sie ergoss wie ein Eimer voller Feuer, und zerfielen zu Staub.
Niemand griff nach Ninas Hand und hielt sie so fest, dass es schmerzte. »Ich hatte gehofft, wir hätten noch Zeit gehabt. Vertrau mir. Versprich mir, dass du nur mir vertrauen wirst.« Nina spürte, dass Niemand zitterte. Er hatte Angst.
»Ich vertraue dir.«
»Lilly? Können wir noch fliehen? Wohin?«, fragte er, als kenne er sich in seinem eigenen Land nicht mehr aus.
Lilly schüttelte den Kopf, dann den gesamten Körper, als wollte sie sich von einem Parasiten befreien, der sich in ihrem Fell festkrallte.
»Lilly, wir müssen hier weg!« Niemand legte den Arm um Ninas Schulter. »Du musst Nina wegbringen.«
Wovon redete er?
»Es bleibt keine Zeit. Wir stellen uns ihnen. Niemand, du bist der Herrscher, hast du das vergessen? Du bist jung, du musst deine Aufgaben jetzt übernehmen«, sagte Lilly, die ihre Selbstsicherheit zurückerlangt hatte.
»Zu spät.«
Die Welt färbte sich rot und Nina glaubte, in einem Sumpf zu versinken. Als sie versuchte einen Fuß zu bewegen, spürte sie einen Widerstand. Sie kam keinen Zentimeter vor oder zurück und sie sank auch nicht tiefer. Doch Wurzeln hielten sie diesmal nicht fest.
29.
Niemand Sonst widerte es an, die Armee zu führen und durch das Niemandsland zu gehen. Dafür gab es Drecksäcke, aber er hatte seinen hässlich-dreckigen Untertan nicht finden können. Wo immer der sich auch herumtrieb, Niemand Sonst würde ihn bestrafen müssen – darauf freute er sich schon. Sein Drecksack durfte nicht verschwinden, ohne dass er ihm die Erlaubnis dazu gab. Seit dieses kleine Ding aufgetaucht war, geriet alles durcheinander. Nichts schien mehr so, wie er es verlangte. Er musste sie
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