Niemand
zum Alltag eines Herrschers, behauptete Niemand Sonst. Er duldete das Affentheater, verabscheute es jedoch.
Auch beim Nikolaus hatte Niemand gelacht. Fünf Jahre lang hatte er sich nicht mehr dorthin getraut. Fünf Jahre, in denen er das Haus in der Glaubensallee gemieden und auf die warme Umarmung, das gute Essen und die Herzlichkeit verzichtet hatte. Er sehnte sich jetzt dorthin zurück. Wenn sie länger geblieben wären, hätte er den Nikolaus in Gefahr gebracht! Als sein Vater ihn damals holen ließ, hatte er ihn als Strafe nicht nur eingesperrt, sondern auch gedroht, die Glaubensallee und die Tannengasse einzuzementieren und alle Bewohner zu töten.
Aus Furcht, am Tod vom Nikolaus, des Christkindes, von Jesus, der Wichtelmännchen, des Osterhasen, des Teufels, der in den Höhlen unter Jesus’ Haus lebte, und aller anderen Niemandsländer schuld sein zu müssen, war er nie wieder dorthin gegangen. Bis zum heutigen Tag.
Mit Nina war alles anders. Niemand war nicht vorsichtig genug gewesen. Stieße dem Nikolaus jetzt etwas zu, traf Niemand die Schuld.
Aber er war der Herrscher. Er. Sein Vater hatte kein Recht, Befehle zu geben, denn nicht er war derjenige, der das Niemandsland führen durfte. Sondern Niemand.
Niemand!
Niemand.
Eben.
Und er war zu jung und unerfahren. Wie sollte er gegen die Intrigen ankämpfen?
Wer würde ihm zur Seite stehen, wenn er sie nicht zwingen oder foltern wollte? Freunde hatte er nicht – außer Nina.
Und sie galt es zu beschützen.
Niemand versuchte zu erschnuppern, was sein Vater im Schilde führte, doch Niemand Sonst beherrschte es gut, seinen Gestank zu überdecken. Überhaupt Niemand konnte es ein bisschen. Nur Niemand war dazu nicht in der Lage. Er hatte es noch nie versucht. Verdammt! Was konnte er schon? Er war ein Niemand. Ein Nichts und Niemand. Ein Gar Nichts. Nein, das stimmte nicht. Das Gar Nichts war eine tiefe Schlucht, in die er sich so manches Mal stürzen wollte. Doch die Feigheit hatte ihn stets zurückgehalten.
Nina tastete um sich. Niemand griff nach ihrer Hand, klammerte sich fest. Ninas Wärme ließ sein Herz schneller schlagen, und diesen einen monumentalen Atemzug lang fühlte er sich nicht mehr wie Niemand.
32.
Die Stille schien alle Einwohner verschlungen zu haben. Niemand sprach ein Wort. – Nein! Niemand redete nicht. Es redete überhaupt keiner. Und diese Ruhe ängstigte Nina. Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen und nach Niemands Hand getastet. Er hatte sie ergriffen und umklammerte sie fest, als fürchte er, sie zu verlieren.
Kurz nachdem sie die eiförmigen Häuser, das Bananenhaus und die Schule der Doofen hinter sich gelassen hatten, kamen sie an einer Bergformation vorbei, die aussah, als zeichneten sich in den fünf eng aneinandergekuschelten Bergen Gesichter ab. Schwarze Lianen hingen wie Bärte herunter.
Ein Geräusch lenkte Ninas Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Aus dem Wald eilten Roboter auf sie zu. Mechanisch surrend. Humpelnd. Die Rote Armee, Nina und alle nicht sichtbaren Herrscher und Möchtegernherrscher ignorierend, rannten sie hinter den Doofen Kühen und Blöden Hunden her. Den Robotern fehlten die großen Zehen.
»Was ist hier nur los?«, flüsterte Niemand.
»Laufen sie weg? Vor der Roten Armee? Vor uns?«, mutmaßte Nina.
»Nein, normalerweise verkriechen sie sich.«
»Was tuschelt ihr denn da?« Nun hatte Niemand Sonst doch ihr Gespräch vernommen. Dabei hatte Nina gehofft, sich leise mit Niemand unterhalten zu können.
Verdammt! Sie hatte so viele Fragen.
Aus der Ferne erkannte sie eine Burg, deren schwarzen Mauern beängstigend wirkten. Nina bekam eine Gänsehaut. Niemand löste seine Hand aus ihrer und legte seinen Arm um ihre Schulter. »Hier wohne ich.«
Der Himmel darüber schien der düsteren Atmosphäre zu trotzen. Er umrahmte die Burg, dessen höchster Turm Konturen in das strahlende Blau schnitt. Die Sonne lachte Nina zu. Demnach folgte die Natur nicht den Befehlen eines Niemand Sonst. Dann durfte es nicht so schlimm sein. Sie lächelte und wünschte, sie könnte Niemand in diesem Moment sehen.
Niemand! Sie musste ihm seinen Namen geben!
Stefan, Daniel, Bernd, Michael, Sebastian, Lukas oder Ulf, wie Suses Freund, mit dem sie erst letzte Woche Schluss gemacht hatte?
Nein. Keiner der Namen passte zu Niemand.
Auch Oskar, Carlos, Christoph, Christian, Lutz, Wilhelm, Eddie, Dirk, Jonas oder Oliver gefielen Nina nicht.
Was geschah, falls ihr kein Name für Niemand passend
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