Niemand
drehte und wendete, dass er davon Muskelkater bekam. Welch Jammer, dass die Niemandsländer ihn nicht sahen und sich nicht vor seinem Äußeren fürchten durften. Oh, sie hatten Angst vor ihm. Aber er wollte auch, dass sie sahen, welch mächtige, gruselige, grausam böse Person er darstellte. Eines Tages, wenn ihm der Thron gehörte, dann würde er jeden dritten Tag zum Tag der Fratzen ernennen. Dann, wenn er sichtbar geworden war. Und natürlich würde er als Fratzenkönig gekürt werden. Oh ja! Bevor der Wettbewerb stattfand, selbstverständlich. Erst dann durften alle gegen ihn antreten, denn er war ein gerechter Herrscher. Das war er!
Doch wie das Leben spielte, konnte nur einer gewinnen – und wer mochte das wohl sein außer ihm, Niemand Sonst?
Niemand könnte ihn besiegen!
NEIN ! Was dachte er denn da?
»Ich habe dir hoffentlich nicht zu wehgetan, mein lieber Bruder. Sag mir, wie willst du Niemand aus dem Weg räumen?«
Er liebte seine Scheinheiligkeit, die er unter einem Zitronenodeur versteckte.
»Du hättest mir beinahe mein Auge ausgestochen!«
»Es ist aber auch ein Elend mit unserem unsichtbaren Dasein. Wenn ich erst Herrscher bin, werde ich dafür sorgen, dass du ein Antlitz erhältst, das deiner würdig ist.«
»Tatsächlich?«, fragte Überhaupt Niemand. »Und wie willst du das anstellen?«
Hörte er da Spott in der Stimme seines Bruders? Sein Geruch veränderte sich nicht. Wie machte er das nur? Noch vor wenigen Tagen war Überhaupt Niemand nicht in der Lage gewesen, seinen wahren Gestank zu überdecken.
»Nun, als mein Berater, zu dem ich dich selbstverständlich erklären werde, wirst du dir etwas einfallen lassen.«
Sie schwiegen einen Moment, die Neutralität seines Bruders wechselte zur salamigen Gier. Niemand Sonst war es gelungen, seine Lüge, die nach muffigem Erdreich stank, zu unterdrücken und seinen Bruder zu täuschen. Er war ein Genie.
Geräuschlos vollführte er ein kleines Tänzchen. Nur gut, dass Überhaupt Niemand ihn nicht sah.
Den Vorschlag, Niemand aus dem Weg zu räumen, fand Niemand Sonst verlockend. Natürlich hatte er schon früher darüber nachgedacht, aber er war sich unsicher, ob er Niemands Unschuld benötigte, um den Thron und die Macht zu erlangen.
Doch da kam ihm eine Idee.
»Drecksack!« Er drehte sich um.
27.
Der Boden vibrierte. Von überall her kreuchte und krachte und knackte und seufzte es. Die Baumwipfel wankten im Takt des Bebens. Aber nicht die Erde war in Aufruhr. Lilly hatte eine vage Ahnung, und sie spürte einen inneren Zwang, der sie zum Marktplatz des Niemandslandes drängte. Doch sie kämpfte dagegen an, sie durfte Niemand und Nina jetzt nicht alleine lassen.
Niemand verlangte nach einem Namen!
Lilly grinste. Das war das Beste, was geschehen war, seit sie lebte – abgesehen von ihrem Dasein natürlich. Sie wusste nicht genau, was es bedeutete, dass Niemand nach einem Namen verlangte, aber es musste gut sein. Es roch nach Neuem, nach Macht, nach Kraft; und all das vermischte sich mit der Magie des Niemandslandes – und einem leckerlieblichzuckersüßen Erdbeerduft, den Niemand verströmte. Aber Nina roch säuerlich, sie hatte Angst.
»Was passiert hier?«, fragte Nina und sah sich verzweifelt um.
»Das weiß ich nicht. Komm, lass uns verschwinden.«
Sie rannten los. Hand in Hand. Nina und Niemand. Ein süßes Gespann. Eins, das alles verändern könnte.
Niemands Stimme hatte sie aufgeschreckt, als er nach der Abrissbirnenkatze, jetzt Lilly – oh, wie sie sich freute – um Hilfe gerufen hatte. Früher hatten ihm Gefahren keine Furcht eingejagt, er hatte nichts zu verlieren, so einsam war der kleine Niemand all die Jahre zuvor gewesen. Gut, dass sie sich in der Nähe des Graswaldes befunden hatten. Nicht auszudenken, was mit Nina und ihm passiert wäre, wenn Lilly sie nicht rechtzeitig erreicht hätte. Niemand Sonst hätte die Herrschaft über das Niemandsland bekommen. Seine Boshaftigkeit brachte ihm nicht den Thron, aber die Niemandsländer fürchteten ihn und Angst war ein starker Regent. Er hatte seine Frau – die Mutter von Niemand – aus dem Weg geräumt, raunten die Niemandsländer an windigen Tagen. Der Sturm kreischte sogar von Mord.
Lilly blieb stehen.
Die Niemandsländer kamen aus ihren Verstecken, sie bekämpften die Furcht, sie gaben dem Ruf des Himmlischen Kindes nach, sie versammelten sich – und sicher nicht, um gemeinsam ein Festmahl beim Nikolaus einzunehmen.
Alles hatte sich verändert, seit
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