Niemand
Geistes sprach, unter dem er beinahe zusammengebrochen sei.
»Das deckt sich mit meinem Wissen«, meinte der Nikolaus. »Allerdings weiß ich, dass die Greislinge bei Tageslicht zu Giganten heranwachsen.«
»Dann haben sie den Zeitschalter manipuliert!«, stellte Lilly fest.
Der Nikolaus nickte.
»Wir müssen zum Zeitschalter zurück.« Äste unter Überhaupt Niemands Füßen knackten und verrieten, welchen Weg er einschlug. Er bewegte sich ein Stück von der Gruppe weg. »Die Greislinge werden dafür sorgen, dass der Zeitschalter für immer auf Tag steht.«
»Mit nur einem Zweck«, ergänzte Lilly. »Uns alle zu zerstören.«
»Ich fürchte, wir müssen schnell sein.« Der Nikolaus stapfte hinter Überhaupt Niemand her. Alle folgten ihm.
******
Die nackten Füße des Himmlischen Kindes bewegten sich lautlos über den mit Laub, Moos und Ästen besäten Waldboden. Schulterlange blonde, lockige Haare umrahmten ein Gesicht, dessen feine Züge dem Knabenhaften fast entwachsen schienen. Seine Haut war glatt und ebenmäßiger als der Abdruck von Niemand Sonst, der Wutanfälle wegen seines attraktiven Erscheinungsbildes bekommen hätte. Das Himmlische Kind trug eine weiße, eng geschnittene Hose und ein weißes, weites, knopfloses Hemd darüber.
»Heiß«, hätte Suse beim Anblick des Himmlischen Kindes gesagt. Aber Herrgott, es war das Himmlische Kind, das durfte Nina nicht einmal denken. Sie sah weg.
»Das Himmlische Kind ist so schön«, flüsterte Nina dem knorrigen Wurzelmännchen ins blattförmige Ohr.
»Wenn Nina das sagt. Dann hat Nina recht.«
77.
»Niemand?«
Dunkelheit. Stille. Ein leises Stöhnen.
»Niemand, bist du das?«
»Wir müssen zum Zeitschalter.«
»Niemand. Du hast Schmerzen. Ich höre es in deiner Stimme. Und du riechst nach Essig.«
»Ich habe mir den Fuß verstaucht.«
Unsichtbar, aber verletzlich.
»Dann helfe ich dir.«
Von der anderen Seite der Türe brüllten die Greislinge und hämmerten gegen das dicke Holz.
Niemand humpelte voran. Er kannte den Weg aus dem Verlies heraus. Schon oft hatte er hier in der Dunkelheit geweint und war vor seinem Vater in den Wald geflohen. Den Thron empfand Niemand als beängstigend, er hatte ihn gemieden, bis auf dieses eine Mal. Zu viel hatte er über den Thron und seine Macht gehört. Als Kind hatte er all die Geschichten geglaubt, später nur Lügen dahinter vermutet. Heute wurde ihm nach und nach bewusst, dass all die Erzählungen der Wahrheit entsprachen. Berichte von Edelsteinen, in denen die Seelen der Toten lebten, Gerüchte über die Macht des Throns und die Weisheit, die er dem wahren Herrscher schenkte – dem Herrscher, der sich diese Macht über das Niemandsland verdient hatte. Auch die Seele seiner Mutter blieb gefangen in einem Diamanten, irgendwo am Thron.
Als hätte Anton gewusst, worüber Niemand nachdachte, sagte er: »Dein Vater ist ein bösartiger Schurke, aber er ist dumm. Er hat deine Mutter getötet, mein lieber Niemand. Ich kenne ihren Platz auf dem Thron. Sie ist ein wunderschöner Diamant. Ich werde sie dir zeigen, falls wir das hier lebend überstehen.«
»Wie hat er es getan?«
»Alle Frauen deiner Familie, deine Mutter, deine Großmutter, deine Ur-Großmutter und so urig weiter, hatten schwere Aufgaben zu bewältigen. Ich habe deine Mutter und deine Großmutter gekannt. Deine Großmutter war es, die mich erschaffen hat. Sie hat viele erschaffen, die einen richtigen Namen haben, so wie ich jetzt einen habe, weißt du. Anton. So ist jetzt mein Name. Doch viele von ihnen, die einen Namen erhielten, haben das Land längst verlassen.«
»Wie hat er sie getötet?!«
Anton seufzte. Niemand verlangte nach einer Antwort.
Sie hatten das Verlies hinter sich gelassen und rannten durch die Kanäle. Fahles Licht sickerte durch die Schächte. Niemands verstauchter Fuß behinderte ihn, er kam nicht schnell genug voran. Anton versuchte ihn zu stützen, aber er war nur ein Sack, wenn auch kein Drecksack mehr.
»Er hat sie verraten und auf den Thron gelockt. Sie wusste nur wenig von ihrer Aufgabe, glaube ich. Sie hat viele Fehler gemacht. Und ihre Mutter hatte sie nie über den Thron aufgeklärt. Sie hat sich daraufgesetzt, ahnungslos und jung, wie sie war.«
»Und verwandelte sich in einen Diamanten?«
»Ja. Hast du Petit gesehen? Weißt du, ob es ihm gut geht?«
Niemand ahnte, dass Anton noch mehr über den Tod seiner Mutter wusste, doch er hatte genug gehört. Einzelheiten verkraftete er zum jetzigen
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