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Niemandsland

Niemandsland

Titel: Niemandsland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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oben, wo er stand, konnte er das Schild auf der rechten Seite kaum lesen. An einer Hauswand sah er ein Bild von Lenin, Engels und Marx in schwarzem Halbprofil vor einem abblätternden hellroten Hintergrund, der vielleicht einmal strahlend rot gewesen war. Vor der Fassade war ein halbfertiges Baugerüst aufgebaut. Wahrscheinlich sollte alles verputzt werden. Von dem halbverdeckten Text unter den drei Porträts brauchte er nur einige Buchstaben zu sehen, um sich den Rest denken zu können: Der Kommunismus wird siegen!
    Er dachte an das Gewicht der beiden Plastiktüten. Die eine war recht schwer, die andere bedeutend leichter. Unten auf dem Leninskij Prospekt (er weigerte sich, den neuen Namen zu akzeptieren) war er auf dem Heimweg an der großen Fischhandlung Neptun vorbeigekommen, da sie heute abend länger geöffnet hatte. Es hatte frisch geräucherten Heilbutt gegeben, saftigen, vor Fett triefenden Heilbutt, der zu einem unverschämten Preis verkauft wurde; es gingen übrigens Gerüchte, daß die Preise bald freigegeben werden würden.
    Er hatte ein ganzes Kilo gekauft, da der unverschämte Preis ihn peinlicherweise nicht mehr betraf. In der zweiten Plastiktüte, der leichten, lagen 100 000 Dollar, die in braunes Packpapier eingewickelt und verschnürt waren.
    Es war natürlich zu spät, etwas zu bereuen, aber er suchte dennoch nach irgendeiner Selbstberuhigung. Gestohlene Kernwaffen ließen sich ohne frisches Tritium nicht einfach abschießen. Damit fing es schon an. Man muß Lithium in einem Reaktor bombardieren, um Tritium zu erhalten. Und wer kann so etwas, wenn nicht der, der solche Waffen schon besitzt?
    Dieser Amerikaner hatte sich zwar einen Scherz entschlüpfen lassen, es sei eine verdrehte Reihenfolge, zunächst russische Wissenschaftler einzukaufen, bevor sie ihre Erkenntnisse und ihr Wissen überhaupt anwenden konnten, und dann erst das Material. Doch das beurteilte Alexej Mordawin als ein reines Gerücht. Staatliche Kernwaffenexperten durften doch nicht einfach außer Landes reisen und sich auf einem sogenannten freien Markt dem Höchstbietenden verkaufen?
    Jetzt war es jedenfalls zu spät, darüber nachzugrübeln. Es war vorbei. Sascha würde bald, vermutlich verzweifelt, von der Militärakademie in Frunse nach Hause kommen, in dem Glauben, sie wohnten immer noch beengt, in dem Glauben, die Finanzen der Familie lägen jetzt an der Grenze des Existenzminimums. Wenn er, Alexej Mordawin, den Inhalt der Plastiktüte nur klug verwaltete, würde seiner Familie niemals etwas zu essen oder ein Dach über dem Kopf fehlen, niemals mehr.
    Er sah zum vierten Stock des Eckhauses zwischen der Karl-Marx-Straße und der Fischgasse hoch. Dort oben brannte Licht, aber er konnte nicht sagen, ob nur Pjotr über seinen Schularbeiten saß oder ob Jelena nach Hause gekommen war, denn soviel er wußte, hatte sie eine Abendschicht.
    Er würde Tee machen und ihnen leckeren frisch geräucherten Heilbutt vorsetzen.
    Er blieb noch eine Zeitlang stehen und folgte einem älteren Paar mit den Blicken. Die beiden drehten auf etwas unsicheren Beinen ihre Runden um die Eisbahn. Sie mußten schon über siebzig sein, und dennoch gingen sie wie junge Leute an diesem Abend aus und liefen Schlittschuh. Es war lange her, seit Jelena und er das getan hatten. Er wußte nicht einmal, wo sie ihre alten Schlittschuhe überhaupt hatten. Natürlich konnte er neue kaufen. Jetzt konnte er sogar die teuersten Schlittschuhe Rußlands kaufen. Der Gedanke machte ihn jedoch nicht froh, nur schuldbewußt.
    Ein Stück weiter, auf der anderen Seite des Zentral-Stadions, lag das Kino Rodina, Vaterland. Im Augenblick lief dort eine von Sergej Bondartschuk gedrehte Reihe von Filmen nach Tolstojs »Krieg und Frieden«. Alexej Mordawin beschloß, mit der Familie am nächsten Tag ins Kino zu gehen, da sie da alle frei hatten.
    Sie aßen einen späten Lunch oder vielmehr Brunch auf Stenhamra, da es ein langer Abend geworden war. Danach brachen Samuel Ulfsson und seine Frau auf, und während der Alte einen Spaziergang machte und Tessie und Anna sich über die Einstellung bestimmter Männer zu bestimmten Arbeiten und bestimmten Geschlechterrollen mokierten und in der überladenen Küche zu arbeiten begannen, gingen Carl und Åke Stålhandske in den Keller und rüsteten sich mit einem Scharfschützengewehr und Ferngläsern aus. Als Åke Stålhandske die Munition untersuchte, wandte er entrüstet ein, das sei ja kriminelle Munition. Er betastete mit dem Daumen die

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